Gewalt gegen Frauen steigt in der Corona-Pandemie an, doch es mangelt an Unterstützungsangeboten. Die neue Bundesregierung verspricht Veränderungen. Was müsste passieren?
Missy Magazine
März 2022
Die Ampel-Koalition will die Istanbul Konvention umsetzen. Und zwar „vorbehaltlos und wirksam“ — anders als die vorherigen Bundesregierungen, die beteuerten, sie hätten das Abkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen im Gegensatz bereits realisiert. Dass das nicht stimmte, ist seit Jahren klar.
Jede Stunde üben in Deutschland laut der jüngsten Veröffentlichung des Bundeskriminalamts 13 heterosexuelle cis Männer Gewalt gegenüber ihren Partnerinnen aus. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein, erst recht in Zeiten wiederkehrender Corona-Lockdowns, in denen Betroffene sich schlechter bei Notrufen melden können. Doch schon die offiziellen Zahlen bezeugen die gewaltvolle patriarchale Normalität: Jede dritte Frau in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer eines sexistischen oder sexualisierten Übergriffs. Jedes vierte Mädchen zwischen 16 und 18 Jahren erlebt einen Vergewaltigungsversuch. Jede vierte Frau wird mindestens einmal von einem aktuellen oder früheren Partner bedroht, geschlagen, geschubst, zum Sex gedrängt, verletzt. Und alle zweieinhalb Tage wird dabei eine von ihnen getötet. Die Statistik verzeichnet eine Zunahme der Brutalität der Taten. Und auch Übergriffe gegen trans und queere Menschen häufen sich und werden aggressiver.
Spätestens #metoo hat vor fünf Jahren offenbart, dass denjenigen, die nicht als Männer gelten, noch immer eins gewiss ist: Die Chance darauf, gegen den eigenen Willen angefasst zu werden. In Folge von #metoo stürzten ein paar Patriarchen, doch das Patriarchat ist längst nicht zu Fall gebracht. Weiterhin unterteilt es die Menschen in zwei Sorten, in Männer und Frauen, und wertet letztere dabei systematisch ab: Die Frau ist Objekt, sie ist verfügbar, sie hat zu dienen.
Es ist eine Ordnung, die brutal verteidigt wird, und zwar nicht nur von offensichtlichen Antifeministen und Sexisten. Eine Ordnung, die in die Köpfe und die Körper der Menschen eingeschrieben ist, genau wie in die Struktur des kapitalistischen Nationalstaats. Es wird noch dauern, bis dieser überwunden ist. Und so ist das Ziel der Bundesregierung, die Istanbul Konvention konsequent umzusetzen und damit alle Formen geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt abzuschaffen, eine ziemlich radikale Utopie, wie Jeja Klein im „Neuen Deutschland“ schrieb.
Und doch gibt es Spielräume für die Verbesserung der Lebensrealität derer, die von patriarchaler Gewalt betroffen sind: Möglichkeiten für mehr Schutz. Opferberatungsstellen, Frauenhäusern und feministischen Initiativen haben in den vergangenen Jahren verschiedene Maßnahmen eingefordert, doch damit bislang in der Politik kaum Gehör gefunden. Das soll sich jetzt ändern.
Im Koalitionsvertrag heißt es: Man wolle der Istanbul-Konvention mit einer staatlichen Koordinierungsstelle Geltung verschaffen. „Wir werden eine ressortübergreifende politische Strategie gegen Gewalt entwickeln, die Gewaltprävention und die Rechte der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt.“ Genauere Vorhaben sind allerdings nicht vermerkt. Was ist akut zu tun, um die Gewalt zu dämmen?
Bislang betreiben Polizei und Justiz viel zu oft Täterschutz. Das liegt an patriarchalen und rassistischen Denk- und Handlungsweisen, die vor allem unter jenen verbreitet sind, die für Recht und Ordnung im Nationalstaat sorgen sollen, etwa unter Polizeibeamt*innen. Das liegt aber auch an einigen Richtlinien, an die sich die Beamt*innen zu halten haben. In vielen Bundesländern kann die Polizei nach dem ersten Anruf eines Opfers häuslicher Gewalt dem Täter lediglich eine Warnung aussprechen. Die Option, einzuschreiten und ihn mitzunehmen, hat sie erst, wenn die Person, der Gewalt angetan wird, sich ein weiteres Mal meldet.
Diese Regelung widerspricht ganz offensichtlich dem Gewaltschutzgesetz, das seit 2002 einen schnellen und effektiven Rechtsschutz bieten soll. Betroffene können sich dadurch etwa direkt an Familiengerichte wenden, die dann zum Beispiel Annäherungsverbote für Täter aussprechen, ohne dass dafür Anzeige erstattet werden muss. Eine sinnvolle Neuerung, nahm man vor 20 Jahren an — doch auch Annäherungsverbote bringen wenig, wenn sie nicht konsequent kontrolliert werden.
In einem Brief an mehrere Mitglieder der neuen Bundesregierung rief die Hilfsorganisation „Weißer Ring“ Anfang Februar deshalb dazu auf, das Gewaltschutzgesetz so umzusetzen, dass es seinen Zweck erfüllt: Täter zu kontrollieren. Sonst würden weiterhin Frauen ermordet, die sich bereits hilfesuchend an den Staat gewandt haben.
Das „Bündnis’ Istanbul-Konvention“, zu dem sich seit 2018 mehr als 20 verschiedene Frauenrechtsorganisationen und Bundesverbände mit dem Arbeitsschwerpunkt geschechtsspezifischer Gewalt zusammengeschlossen haben, rät, dass eigens geschulte Sozialarbeiter*innen den Umgang mit Betroffenen übernehmen, nicht länger bewaffnete Polizist*innen. Wichtig sei das vor allem für Menschen, die besonders verletzlich sind, Opfer von Menschenhandel etwa, Sexarbeiter*innen, Obdachlose und Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus, für die Polizeibeamt*innen eine zusätzliche Bedrohung darstellen.
Doch solche spezialisierten Notrufe und Beratungsstellen existieren nicht in allen Regionen Deutschlands und die vorhandenen Stellen wiederum sind oft nicht ausreichend ausgestattet, wie das Bündnis in einer Erhebung 2020 nachwies. Es mangelt etwa an digitaler Infrastruktur, an Räumen für Gespräche und an barrierefreien Zugängen, obwohl Frauen mit Behinderungen besonders häufig Opfer sexualisierter Gewalt werden.
Ähnlich groß ist der Mangel an Frauenhäusern: Laut Istanbul-Konvention fehlen in Deutschland 14.000 Plätze. Mindestens. Die genaue Zahl kennt niemand. Es gibt bislang keine zentrale Datenerfassung und auch keine einheitlichen Vorgaben für die Ausstattung der Frauenhäuser in den Bundesländern. Die Ampel-Regierung sichert nun im Koalitionsvertrag „einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen für eine verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern“ zu. Wie nötig das ist, zeigte im vergangenen Jahr erstmals eine Datenanalyse des Recherchenetzwerks Correctiv: Von den mehr als 30.000 FLINTAs und Kindern, die jährlich Schutz suchen, müssen die Häuser oft dutzende oder sogar hunderte innerhalb einiger Monaten abweisen. Und auch für die vorhandenen Plätze gibt es bislang zu wenig Finanzierung. Betroffene müssen ihren Aufenthalt zum Teil selbst bezahlen. Erst recht fehlen Gelder für Angebote der Sprachvermittlung oder der Kinderbetreuung. Hier will die Bundesregierung ebenfalls aktiv werden und unter anderem endlich den „Vorbehalt“ gegen Artikel 59 der Istanbul-Konvention streichen, der die Schutzrechte von Frauen mit Migrationserfahrungen regelt.
Es braucht nach der Überzeugungen von Expert*innen auch eine Reformen der Gerichtsbarkeit. Die Anwältin Christina Clemm, die seit mehr als einem Vierteljahrhundert Betroffene geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt vertritt, prangert in ihrem 2021 erschienen Buch „AktenEinsicht“ die „strukturellen und systematischen Schwächen der Justiz und Strafverfolgungsbehörden“ an und fordert unter anderem eine „Opfervermutung“ geltend zu machen. Das bedeutet nicht, die „Unschuldsvermutung“ aufzuheben, aber in einem Verfahren gleichzeitig eine Person, die sich selbst als Verletzte bezeichnet, so zu behandeln als sei sie es auch. Justizmitarbeiter*innen, argumentiert Clemm, sollten bei Befragungen davon ausgehen, dass eine Person, die von Gewalt berichtet, genau diese auch erlebt hat, statt wie bislang implizit zu unterstellen, dass sie lügt. Skeptische Verhöre dienen im Fall sexualisierter Gewalt nicht zur Aufklärung, sondern führen im Zweifel zur Retraumatisierung der Betroffenen.
Richter*innen müssten zu Schulungen im Umgang mit Traumatisierten genau wie zur Auseinandersetzung mit Macht- und Ausbeutungsverhältnissen verpflichtet werden. Immer noch, auch nach der Reform des Sexualstrafrechts von 2016, prägen nach Clemms Erfahrung patriarchale Vorstellungen von Sexualität die Verhandlungen. Dass Männer sich nehmen müssten, was sie brauchen; oder dass die Frau den Sex, zu dem sie gezwungen wurde, insgeheim doch gewollt habe — Vorstellungen, die die Urteile zu Gunsten der Täter ausfallen lassen. Von hundert Frauen, die in Deutschland vergewaltigt werden, erlebt nur etwa eine einzige die Verurteilung des Täters, bilanziert der Kriminologe Christian Pfeiffer. Das liegt auch daran, dass 85 Prozent der Betroffenen erst gar nicht vor Gericht ziehen. Die ‚Erfolgsaussichten’ sind zu gering. Außerdem drohen ihnen Zahlungen, Unterlassungsforderungen, Verleumdungsklagen, wenn sie überhaupt wagen, sich zu äußern.
Die ökonomische Schlechterstellung von FLINTAs gegenüber cis Männern verschärft die patriarchalen Gewaltverhältnisse in mehrerlei Hinsicht: Täter können sich öfter besser Anwälte leisten als ihre Opfer. Frauen, die finanziell von einem Partner abhängig sind, können sich auch schlechter trennen. Eine akute Schutzmaßnahme sind Wohnangebote für Betroffene in Frauenhäusern, eine andere ist etwa, so schlägt es auch die neue Bundesfamilienministerin Anne Spiegel vor, eine sofortige Aufwertung aller Care-Berufe, in denen vorrangig Frauen arbeiten.
Die Istanbul-Konvention fordert den Kampf gegen die Ursachen der Gewalt und nennt dabei explizit die ungleichen Machtverhältnisse zwischen FLINTAs und cis Männern sowie tradierte Rollenzuschreibungen und Geschlechterverständnisse. Wie tief letztere in Deutschland noch verankert sind, zeigt sich auch, wenn nach einem Feminizid die Rede von einer Beziehungstat ist oder wenn cis Männer, denen ein Vergewaltigungsvorwurf gemacht wird, angeblich zum Opfer einer „Hetzjagd“ werden. Wenn patriarchale Gewalt öffentlich verharmlost wird.
Gemäß der Konvention, und hier stimmt sie mit vielen feministischen Analysen und Theorien überein, ist Gewalt das soziale Instrument, mit dem die patriarchale Machtungleichheit weiter verfestigt wird. Der Ausbau „präventiver Täterarbeit“, den die Bundesregierung nun plant, ist in den Augen des Bündnis` Istanbul-Konvention daher unerlässlich. Dazu gehört auch, dass Aufklärung über Gewalt und Geschlecht schon im Kindergarten beginnt, dass Queerfeminismus Einzug in alle Institutionen der Erziehung und Bildung hält.