Sie galten als Held*innen. Dann machte das Gerücht die Runde, NGOs würden Migrant*innen illegal nach Europa schleusen. Jetzt sollen die Retter*innen vor Gericht.
Frankfurter Allgemeine Quarterly 11
Juni 2019
Zoe Meier* aus Freiburg wollte Menschen retten – und soll dafür bis zu 20 Jahre ins Gefängnis. Sie ist eine von zehn ehemaligen Crew-Mitgliedern der Iuventa, denen noch dieses Jahr in Italien der Prozess gemacht wird. Als Kind lernte sie Segeln am Schluchsee nahe ihrer Heimatstadt, machte eine Ausbildung zur Segellehrerin und wusste, was sie zu tun hatte, als sie selbst einmal während eines Törns vor Malta in einen Sturm geriet und um ihr Leben bangte, seit ein Fischer sie aus dem Wasser zog: sich an der zivilen Seenotrettung auf dem Mittelmeer beteiligen. 2017 half sie für drei Wochen auf der Iuventa vor der libyschen Küste mit. „Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dafür juristisch verfolgt zu werden“, sagt sie.
Innerhalb eines Jahres hat der deutsche Verein „Jugend Rettet“ mit seinem Schiff Iuventa 14.000 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt. Über 200 Freiwillige waren an 16 Einsätzen beteiligt, Ärztinnen, Maschinisten und Einsatzleiter. Im August 2017 beschlagnahmte die italienische Regierung das Schiff, im Sommer 2018 wurden die Ermittlungen gegen zehn Crewmitglieder eingeleitet. Meier ist mit 22 Jahren die jüngste von ihnen, neben ihr trifft es Sascha Girke, 40, der „Jugend Rettet“ mitgegründet und fast alle Missionen der Iuventa als Einsatzleiter begleitet hat, die Kapitänin Pia Klemp, 35, für die die Ermittlungen einem Berufsverbot gleichkommen, und die 25-jährige Laura Martin, die bei vier Einsätzen dabei war und nun eigentlich Medizin studieren sollte. Die Ermittlungen haben alle zehn aus ihren Leben gerissen, sie müssen Gelder eintreiben, um Anwälte zu bezahlen, ihre Zukunft neu planen. Der Prozess in Italien wird sich über drei bis vier Jahre hinziehen und mehrere hunderttausend Euro kosten.
Wie kam es dazu, dass in Europa Menschen vor Gericht müssen, weil sie anderen geholfen haben?
2012 war die Zahl der Menschen, die auf der Flucht waren wegen neuer Kriege und Krisen, etwa in Syrien, Mali und im Sudan so hoch wie seit 1994 nicht mehr. Einen Asylantrag in Europa konnte und kann man aber nur vor Ort stellen und einer der zentralen Wege nach Europa führt über das Mittelmeer. Als 2013 bei nur einem Schiffsunglück mehr als 300 Flüchtende vor Lampedusa ertranken, rief die italienische Regierung die Operation „Mare Nostrum“ ins Leben. Sie rettete mehr als 400 Menschen am Tag. Doch nach einem Jahr stellte Italien sie aus Kostengründen ein. Die europäischen Regierungen verweigerten die nötigen Mittel, um „Mare Nostrum“ in eine europäische Seenotrettung zu überführen.
Die Todeszahlen vor den Küsten Europas stiegen wieder an und gingen erst zurück, als ab 2015 private Organisationen die Seenotrettung auf dem Mittelmeer übernahmen. Die Gründerin einer der ersten Organisationen, Regina Catrambone, wurde vom italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella mit dem Verdienstorden der italienischen Republik ausgezeichnet. Zeitungen priesen die Retter: Heldenhaft würden sie die europäischen Werte wahren.
Zwei Jahre später war von diesem Lob kaum etwas übrig: Merkel beteuerte, „eine Situation wie 2015“ solle sich nicht wiederholen. Stimmen wurden laut, die sich darum sorgten, die Arbeit der NGOs könne Anreize für Migranten schaffen, die Überfahrt nach Europa überhaupt erst zu wagen. In vielen europäischen Parlamenten gewannen rechte Parteien an Macht, die glaubten: Asyl-Aktivisten schleusen Migranten illegal nach Europa.
Diese Behauptung äußerte als erstes Ende 2016 die niederländische Gefira Foundation, die den Identitären nahe steht, und lieferte vermeintliche Belege in Form von Screenshots von der Schiffstracking-Webseite Marinetraffic, die gefälscht waren. Kurz darauf schrieb die Financial Times, die europäische Grenzschutzagentur Frontex erhebe Vorwürfe, Seenotrettungsorganisationen würden Schleuser unterstützen. Obwohl Frontex dementierte, sprach auch der italienische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro weiter über die angeblich illegale Arbeit der NGOs — ohne jedoch Beweise vorzulegen. Auf seine Aussagen berief sich dann trotzdem der damalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière und sagte in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, sein Vertrauen in die NGOs sei „erschüttert“.
Die Rechten sahen sich bestätigt. Anhänger der „Identitären Bewegung“ behinderten schließlich unter der Kampagne „Defend Europe“ im Sommer 2017 verschiedene NGOs in den Häfen Italiens am Auslaufen und planten, selbst auf See zu gehen, um Seenotretter zu stoppen.
Das übernahm dann die italienische Regierung: Im August 2017 beschlagnahmte sie die „Iuventa“. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft in Trapani: Beihilfe zur illegalen Migration. Und obwohl alle angeblichen Beweise gegen die Crew inzwischen von der unabhängigen Forschungsgruppe „Forensic Architecture“ der Goldsmith University in London entkräftet wurden, müssen die zehn Mitglieder von „Jugend rettet“ vor Gericht.
Im selben Sommer, in dem die „Iuventa“ beschlagnahmt wurde, sprach die europäische Kommission der libyschen Küstenwache 46 Millionen Euro zu, damit sie Menschen an der Überfahrt über das Mittelmeer hindere. Italien stattete die Libyer bereits im Mai 2017 mit zwei Schiffen aus. Ein Fall vom November des selben Jahres, den „Forensic Architecture“ zusammen mit der „New York Times“ aufgearbeitet hat, zeigt, was die libysche Küstenwache mit diesen Schiffen macht: Im Video der „New York Times“ fährt sie so nah an einzelne Menschen im Wasser heran, dass sie nach unten gezogen werden und ertrinken. Und diejenigen, die an Bord klettern, bringt die Küstenwache zurück in die Lager, aus denen sie geflohen sind, wo sie gefoltert, zu Tode vergewaltigt oder „weiterverkauft“ werden, wie eine Studie der internationalen Organisation „Women’s Refugee Commission“ belegt. Die Menschenhändler, zu denen die lokalen Partner der EU gehören, machen Geld damit, die Misshandlungen aufzunehmen, zu fotografieren und zu filmen, um diese Dokumente an die Familien der Migranten zu senden und Geld für das Ende der Folter zu fordern.
Die einzigen, so scheint es, die sie vor diesem Schicksal oder dem alternativen Tod im Wasser bewahren können, sind die wenigen zivilen Seenotretter, deren Schiffe noch im Mittelmeer fahren dürfen.
Pia Klemp, die ehemalige Kapitänin der Iuventa glaubt, das Verfahren gegen sie solle andere abschrecken. „Wenn es keinen klaren Freispruch gibt, dann ist das das Ende der zivilen Seenotrettung“, sagt sie.
Schon jetzt zeigt sich der Effekt von deren Einschränkung: 2017 und 2018 ertranken wieder Tausende Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen. Und obwohl letztes Jahr laut UNHCR so viele Menschen auf der Flucht waren wie noch nie zuvor, nahm die Zahl der Asylsuchenden in Europa im Vergleich zu 2016 deutlich ab.
„Ich bin mit einem anderen Verständnis aufgewachsen“, sagt Zoe Meier. „Die Erfahrung der Generation meiner Großeltern hatte uns doch gelehrt, einander Schutz zu gewähren.“ Dass sehr viele Menschen diese solidarische Haltung nicht aufgeben wollen, zeigt sich in ihren Augen in den Demonstrationen der Initiative „Seebrücke“, die in den letzten Jahren in ganz Deutschland stattfinden. Das müsse doch Druck erzeugen auf die Regierungen, sagt sie. Druck, der bewirken könnte, dass sie alle frei gesprochen werden. Aber darauf will sie sich nicht verlassen.
Im Buch „Mayday“ über die Geschichte der deutschen Seenotrettung heißt es, es sei das aufgeklärte Bürgertum Norddeutschlands gewesen, das einst die Regel etabliert habe: ‚Wo Menschen auf See in Not sind, rücken Helfer an.‘ Wenn es die Aufklärung war, die den Menschen dazu brachte, Seenotrettung Anfang des 20. Jahrhunderts im internationalen Seerecht als Pflicht zu verankern, dann wäre ihre Kriminalisierung ein Zeichen zivilisatorischer Verrohung.
*Name von der Redaktion geändert