Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
August 2020
Kurzes Stimmungsbild des Jahres 2020: Die Fronten sind verhärtet, Fragen nach Privilegien und Identitäten spalten die Menschen, so scheint es, immer weiter. Doch Michaela Coel macht ihnen Hoffnung, Hoffnung auf Versöhnung. Ihre Serie „I May Destroy You“ verhandelt alles, worum um es in den Debatten der vergangenen Jahre ging: Es ist die Serie zu #metoo, zur Frage nach gesellschaftlichem Konsens, nach Trauma, Empathie und dem Vermögen, zu verstehen und zu verzeihen. Coel, eine schwarze Londoner Autorin, verarbeitet darin ihre eigenen Erlebnisse und spricht doch gleichzeitig alle an. Im Juni lief die Serie auf BBC, im August bei HBO – und angesichts der begeisterten Kritiken kann es nicht mehr lange dauern, bis sie auch in Deutschland zu sehen sein wird.
In schnellen Schnitten, mit Rap und Trap unterlegt, zeichnet Coel ein paar Wochen im Leben von Arabella nach, die wie sie eine junge Autorin in London ist und deren Eltern wie ihre aus Ghana kamen. Arabella feiert gerne Partys mit ihren queeren, schwarzen Freund*innen, ihre viralen Twitter-Posts hat sie als „Chronicles of a Fed-Up Millennial“ in Buchform veröffentlicht und wurde so plötzlich zum Star in der Literaturwelt. In der ersten Episode der Serie soll sie ihr zweites Buch fertigschreiben. Stattdessen geht sie erst mal aus, bekommt Drogen in den Drink gemischt und wird vergewaltigt.
Freude und Finsternis, Glanz und Knall sind hier so nah wie in der Welt vor dem Bildschirm. Und mit jedem Ereignis legt Michaela Coel parallel zu Arabellas Entwicklung eine weitere Schicht der Verhältnisse frei. Es ist furchtbar, niederschmetternd, euphorisierend und manchmal witzig zugleich.
Arabella ist schon vor dem Trauma, das sie aus der Nacht davonträgt, ruhelos, energiegeladen und so herzlich, dass ihr die Zuneigung zu den Menschen ins Gesicht geschrieben steht, in ein Gesicht, das von einer Sekunde zur anderen überbordende Begeisterung und dann fürchterliche Angst ausdrücken kann. Das nichts verbergen will. Arabella ist so scham- und furchtlos wie die Erzählung selbst. Und so macht sie sich auf, die Nacht zu rekonstruieren, sucht Hilfe bei den Behörden, nicht ohne an anderer Stelle deren Rassismus zu thematisieren. Sie hat ihren Freundeskreis an ihrer Seite und eine Therapeutin. Und gleichzeitig ringt sie darum, überhaupt anzuerkennen, zum Opfer geworden zu sein.
„Was machen Sie, wenn die Flashbacks zu krass werden?“, fragt die Therapeutin. Arabella antwortet, sie führe sich vor Augen, dass Kinder hungern, dass es Krieg in Syrien gibt. Was sei schon eine kleine Vergewaltigung, wenn andere Mädchen gesteinigt werden. Wenn es auf der Welt Menschen gebe, die kein Handy haben, sagt sie ernsthaft. Und natürlich wirkt es erst einmal absurd. Doch während sie in der Therapie sitzt, hat Kwame, ihr bester Freund, Sex in einer Supermarkttoilette mit dem Kassierer, den er gerade auf Grindr, einer Dating-App, klargemacht hat. Ohne sein Handy hätte er als schwuler, schwarzer Mann kaum die Möglichkeit, Partner zu finden. Kwames Smartphone ist seine Befreiung. Nichts relativiert sich gegenseitig, das sagt die Art, wie die zwei Szenen ineinandergeschnitten sind, die Therapiesitzung und der Supermarktsex. Alle sind wichtig.
Doch wer ist wann Täter? In den zwölf Folgen lernen alle, dass sie verstrickt sind, dass niemand frei ist in dieser Gesellschaft, in der man um Nähe ringen muss, darum, sich zu verständigen. Alle verhalten sich mal übergriffig, auch Arabella selbst, etwa als sie nicht merkt, dass auch Kwame gerade Opfer einer Vergewaltigung wurde, und deshalb darauf keine Rücksicht nimmt. Coel wendet die Situationen und die Ideen immer wieder, um sie aus einer anderen Perspektive zu betrachten und die Erwartungen zu erschüttern.
Aushandlungen sind schwierig, erst recht in einer Gesellschaft, deren Boden nicht für alle gleichermaßen stabil ist. Arabella sagt in einer Folge, es gebe Täter, die würden verstehen, dass ihr Verhalten gewaltvoll sei, die würden bewusst eine Person, die ihnen untergeordnet ist, ausnutzen. Und diese Täter gilt es zur Rechenschaft zu ziehen. Sie schreibt in ihr Manuskript: „Bevor ich vergewaltigt wurde, spielte das Frau-Sein für mich keine Rolle. Ich war damit beschäftigt, schwarz und arm zu sein.“ Es ist die Erfahrung der Unterdrückung und Missachtung, die einen zum Teil einer Gruppe macht. „Bin ich zu spät dran, um dieser Gruppe zu dienen, die sich Frauen nennt?“, fragt sie. Ist sie nicht.
Sie selbst hat noch ein zweites Missbrauchserlebnis, als Zain, ein aufstrebender Autor ihres Alters, der ihr von der Agentur zur Seite gestellt wurde, beim Sex heimlich das Kondom abstreift – was tatsächlich nicht selten passiert und im Internet als „stealthing“ bezeichnet wird. Arabella nutzt im Anschluss die Bühne ihres gemeinsamen Verlags und sagt, dass er ein Vergewaltiger sei. Sie macht einen sogenannten Call-out: spricht öffentlich über den Fall, benennt den Täter.
Call-out und Cancel Culture würden die Meinungsfreiheit einschränken, hieß es in den letzten Jahren oft: Man müsse zwischen Werk und Autor unterscheiden und dürfe niemanden professionell abschreiben, nur weil er privat ein Sexist oder Rassist sei. Die Antwort von „I May Destroy You“ erfasst die Komplexität der Dinge: Das Video von Arabellas Call- out geht viral, und Zain ist als Autor erledigt. Doch Susy, die Verlagschefin, die ebenfalls schwarz ist und lange Arabellas Ikone war, lässt ihn unter Pseudonym weiterschreiben, zu erfolgreich war sein erstes Buch. Zu sehr ist Susy korrumpiert vom „big fancy business“, wie Arabella es nennt. Arabella bekommt das zweite Buch von Zain in die Hände, ohne zu wissen, dass es von ihm ist, sie ist begeistert und will die vermeintliche Autorin dahinter treffen. Als dann Zain vor ihr steht, kann sie es nicht fassen. Aber er ist voll ernster Reue und wird etwas tun, um sie zu versöhnen. Es gibt nichts jenseits des Politischen, sagt die Serie. Und dass Charakter, Leben und Werk verwoben sind und dadurch auch immer in Bewegung bleiben.
Michaela Coel spielt Arabella auf die gleiche aufrüttelnde, explosive Weise, mit der sie schon die Hauptrollen in „Black Earth Rising“ und „Chewing Gum“ übernahm. „I May Destroy You“ hat sie nicht nur geschrieben, sondern nun auch Regie geführt und mitproduziert. Es ist ihr Werk, basierend auf ihren Erfahrungen und doch voller Neugier für die anderen, Empathie mit ihnen.
Arabella kann schließlich ihren Frieden mit sich und mit der Nacht machen, die ihr die Flashbacks und die Schlaflosigkeit gebracht hat. Die Serie zeigt einen Umgang mit dieser Welt, in der Gewalt und Unrecht allgegenwärtig sind, einen Umgang, der das Schreckliche sehen und trotzdem das Schöne genießen kann, der um Gerechtigkeit und Sühne ringt und doch auch verzeiht.
„I May Destroy You“ zerstört niemanden, im Gegenteil.