Naomi Henkel-Guembel, Überlebende aus Halle, über rechten Terror, Rassismus bei der Polizei und wie ihre Aufklärungsarbeit ihr hilft, mit dem Trauma zu leben

Frankfurter Rundschau
Oktober 2024

Naomi Henkel-Guembel ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur wanderte sie nach Israel aus. Für ihr Rabbinatsstudium war sie wieder in Berlin und reiste am 9. Oktober 2019, an Yom Kippur nach Halle. Dort überlebte sie den Anschlag auf die Synagoge. Vier Jahre später war sie in Israel, als die Hamas angriff.

Wie geht es Ihnen in diesen Tagen?

Es ist schwierig. Ich bin von Sorge erfüllt. Die beiden Jahrestage, der 7. Oktober und der 9. Oktober, die Massaker der Hamas im vergangenen Jahr und der Anschlag in Halle Jahren lasten sehr schwer auf mir und auf der jüdischen Community in Deutschland. Sie liegen nah beieinander und verdeutlichen, dass die existenzielle Bedrohung für Juden:Jüdinnen allseits präsent und real ist. Nach dem 7. Oktober haben antisemitische Ausschreitungen, Übergriffe und Anschlagsversuche sogar noch zugenommen. Die Gefahr kommt von islamistischer Seite und gar von manch Linken, aber sie kommt in Deutschland auch von rechts. Das hat uns gerade der 9. Oktober 2019 gezeigt.

Die rechten Kräfte gewinnen hier kontinuierlich mehr Einfluss. Warum kehren Sie trotzdem immer wieder nach Deutschland zurück und geben Workshops etwa für Polizeibeamt*innen?

Weil ich etwas tun will im Kampf gegen rechts. Die Tatsache, dass ich den Anschlag überlebt habe, hat bei mir ein Verantwortungsgefühl gegenüber allen ausgelöst, die in Deutschland von rechter Gewalt betroffen oder bedroht sind — durch Antisemitismus, Rassismus und anderes menschenverachtendes Gedankengut. Ein Grund, hierher zurückzukehren, ist auch, dass wir uns als Überlebende so stark vernetzt haben, dass wir gemeinsam für die Aufarbeitung der rechten Tat kämpfen. Wir haben schnell gemerkt, dass wir nicht gleich behandelt werden. Am Tag nach dem Anschlag lauteten die Schlagzeilen: Anschlag auf Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag. Niemand hat zu dem Zeitpunkt über den Kiezdöner geschrieben. Und so haben wir uns zusammengetan, um zu betonen: Es war nicht nur ein antisemitischer Anschlag. Es war auch ein rassistischer und ein misogyner Anschlag.

Sie und andere Überlebende haben die Aufklärungsarbeit in mehrerlei Hinsicht selbst übernommen.



Die Polizei hat am Tag des Anschlags geschlampt. Die Beamt*innen dachten etwa nicht einmal darüber nach, dass Leute in der Synagoge waren, die kein Deutsch sprechen. Wir selbst, die wir gerade einen Terroranschlag überlebt hatten, mussten die Übersetzungsarbeit übernehmen. Als wir dann im Prozess in der Nebenklage auftraten, forderte die Richterin von uns, wir sollten mehr Anerkennung für die Arbeit der Polizei zeigen. Zur gleichen Zeit kam ans Licht, dass die Beamt*innen in Sachsen-Anhalt und Halle selbst antisemitische und rassistische Äußerungen in Chats austauschten. Das LKA und das BKA waren auch unbeholfen, sie hatten kein Verständnis davon, wie Gaming-Plattformen und Online-Foren funktionieren, also jene Räume, in denen sich Rechte radikalisieren und organisieren. Das haben wir als Nebenklage aufgebracht und so dem Narrativ, des Einzeltäters entgegengewirkt. Und wir haben auch erkämpft, dass einige Medien den Namen des Täters nicht mehr verbreiten, was zuvor üblich war — obwohl es den Rechten zur Huldigung dient.

Wird rechter Terror mittlerweile ausreichend als Gefahr wahrgenommen? Darüber, dass der Täter 2023 aus dem Gefängnis ausbrechen wollte, dort eine Waffe basteln und Geiseln nehmen konnte, berichtete etwa kaum ein überregionales Medium.

Es gibt Errungenschaften unserer Arbeit. Momente, in denen etwa öffentlich anerkannt wurde, dass auch Westdeutschland ein Neonazi-Problem hat und dass die Menschen die AfD nicht nur aus Frust wählen. 2023 flog ich nach Berlin, für Yom Kippur und für das „Festival of Resilience“, mit dem wir jährlich ein Gedenken gemäß der Bedürfnisse von Betroffenen und Überlebenden gestalten. Ich bin danach guter Dinge nach Israel zurückgekehrt. Ich hatte das Gefühl, dass etwas vorangeht, dass es eine hoffnungsvolle Zukunft gibt, nachdem endlich die Corona-Jahre vorbei waren, die Schwere und die antisemitischen Verschwörungstheorien, die diese Jahre mit sich gebracht haben. Ich hatte den Eindruck, die Dinge ordnen sich. Aber dann kam der 7. Oktober und hat alles zunichte gemacht und gezeigt, wie fragil letztendlich die Aufarbeitungsprozesse sind, die persönlichen und die kollektiven.

Sie waren in Israel, als die Hamas angriff.



Und ich war wieder in einer Synagoge beim Beten, wie schon beim Angriff vier Jahre zuvor. Ich hatte mein Telefon nicht dabei, es gab Raketenalarm in Tel Aviv und die Stadt war leer, als ich nach Hause lief. Als ich erfuhr, was passiert ist, sind Welten zusammengebrochen. Wie ein Kartenhaus. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung gibt es Höhen und Tiefen und mal gelangt man an einen Punkt, in dem man es nahezu überwunden hat, und dann wird es wieder auf die Probe gestellt mit Flashbacks, Albträumen und Schlafstörung. 

Sie arbeiten selbst als Therapeutin und betreuen auch traumatisierte Menschen. 
 
Das war eine Entscheidung, die mit meinem eigenen Trauma aus Halle, meiner eigenen Erfahrung zu tun hatte. Die therapeutische Arbeit mache ich hauptsächlich in Tel Aviv. Doch der 7. Oktober hat nun auch das schwieriger gemacht: Wie kann man Therapie für andere leisten, während eine traumatische Situation anhält und einen selbst betrifft, während man selbst bedroht ist? Das sind wir in Israel nun permanent alle, denn der Krieg ist ja im Gange.



Inwiefern hat der 7. Oktober auch die Arbeit in ihren Bündnissen gegen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland erschwert?

Das Misstrauen wächst. Ich frage mich etwa, was mir passieren würde, wenn ich jetzt auf der Sonnenallee entlangliefe und Leute mich Hebräisch reden hören würden. Wer würde mich gegen mögliche Bedrohungen schützen? Wer würde mich unterstützen? Und welcher Teil meiner Überlegungen ist überhaupt der realen antisemitischen Gefahr geschuldet und welcher den internalisierten Ressentiments? 

Sie meinen die rassistischen Ressentiments, die der politische Diskurs zum „importierten Antisemitismus“ befeuert?

Genau. Ich möchte mich nicht instrumentalisieren lassen von populistischen Kräften. Gleichzeitig ist es so, dass muslimische Communities tatsächlich nicht selten ein Antisemitimus-Problem haben. Man darf die Gefahr auch nicht kleinreden. Aber niemand kommt mit konkreten Vorschlägen, die meisten Politiker*innen verbreiten nur rassistische Stereotype.

Fragen jene Politiker*innen, die ihr vermeintliches Engagement gegen Antisemitismus vor sich hertragen, eigentlich bei Ihnen, den Überlebenden des größten rechten, antisemitischen Terroranschlags der vergangenen Jahrzehnte, nach, wie es geht?

Nein. Es ist vielmehr so, dass seit dem 7. Oktober der 9. Oktober in Vergessenheit geraten ist. Selbst der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein, der häufig beim Halle-Prozess war, hat bei einer Vortragsreihe zum Umgang mit Betroffenen von Antisemitismus, Rassismus und Gewalt gegen Sinti und Roma in der Charité neulich die Einleitungsrede gehalten und dabei zusammengefasst gesagt: Antisemitismus steige jedes Mal, wenn es in Nahost knallt. In seiner 20minütigen Rede hat er kein einziges Mal über den 9. Oktober 2019 gesprochen. Das ist ein ziemlicher Rückschlag im Kampf gegen rechten Terror in Deutschland. Ich will mir gar nicht ausmalen, ob unsere Arbeit noch möglich wäre in einer anderen Regierungskonstellation.