Bald könnten Computer den Tod abschaffen, sagen Transhumanisten. Das klingt nach wilden Science-Fiction-Phantasien. Doch auch die EU investiert mittlerweile in die Digitalisierung des Körpers

FAZ
Juli 2015

Eine Frau läuft durch die Großstadt, sie steht an der Ampel, als ihr rechter Arm und ihr Kopf plötzlich zu zucken beginnen. Nur mit Mühe kann sie weitergehen, ihre Gliedmaßen bewegen sich ruckartig und unkoordiniert. Im Krankenhaus schließlich wird ihr Kopf gescannt, das Problem erkannt und der Frau geholfen: Die Ärzte schieben ihr einen kleinen weißen Chip seitlich in den Schädel, die Patientin öffnet die Augen, sie lächelt. Auf ihrer Stirn erleuchtet ein kleines Apfelsymbol.

Das Video gibt vor, der neue Werbespot für das iPhone 7 zu sein, es ist aber von Noka, einem Unternehmen, das in Kunstfilmen gesellschaftliche Trends karikiert. Musikalisch untermalt ist der Spot von Leslie Feists Lied „Tout doucement“. Ganz sanft solle alles vorangehen, dann sei das Leben phantastisch, singt Feist. Der Film ist Parodie und Prophezeiung zugleich, zwinkernd führt er den Zuschauern die zunehmende Abhängigkeit von digitalen Geräten vor und flüstert dabei: Der nächste Schritt in die transhumane Dimension ist nah. So sanft wie Feist singt, suggeriert Noka, verschmelzen Mensch und Maschine.

Mini-Roboter in der Blutbahn

2030 soll es so weit sein. Die Computer werden den Tod abschaffen. Wir werden nicht mehr leiden und nicht mehr sterben müssen. So verspricht es Ray Kurzweil, Pionier in der Forschung zu künstlicher Intelligenz und Kopf der transhumanistischen Bewegung. Einer Bewegung, die auf die Veränderung und Überwindung des menschlichen Körpers durch die Technologie setzt. Nach Kurzweil könnten schon bald Nanobots, sehr kleine Roboter in der Blutbahn, Viren, Bakterien und Krebszellen bekämpfen. Und der Moment der „Singularität“, verspricht er schon seit Jahren, sei nah: Dann soll künstliche Intelligenz so weit entwickelt sein, dass sie mit der menschlichen verschmelzen kann. Das sei der Augenblick, an dem sich Mensch und Maschine so weit annähern, dass die digitale Kopie von Personen, der Download der Identität möglich wird. Durch die Nanobot-Medizin werden Menschen nicht mehr altern; falls doch, wird ihre jeweilige Gehirn-Software auf robotische Avatare überspielt.

Das klingt nach wilden Science-Fiction-Phantasien eines Spinners, den man nicht ganz ernst nehmen kann. Doch Ray Kurzweil ist Chefingenieur von Google, Träger von 19 Ehrendoktorwürden, Erfinder des Flachbett-Scanners sowie des ersten Sprach-Synthesizers; er hat Dutzende weiterer Patente erhalten und in den Achtzigern korrekt den Kollaps der Sowjetunion sowie das Jahr vorausgesagt, in dem ein Computer den Weltmeister im Schach schlagen würde. Auf der Exponential-Finance-Konferenz, die im Juni führende Köpfe der IT- und Finanzbranchen in New York zusammenbrachte, verkündete er, dass wir uns bereits in 15 Jahren direkt mit der künstlichen Intelligenz verbinden werden, dass wir selbst die künstliche Intelligenz werden.

Die Abschaffung des Todes

Und Kurzweils transhumanistische Ideen verbreiten sich: Während er bei Google an der Abschaffung des Todes arbeitet, haben sich in verschiedenen Ländern transhumanistische Parteien gegründet, die nicht nur eine kleine Zahl von durchgeknallten Bio-Hackern vertreten. In den Vereinigten Staaten will Zoltan Istvan, ein anerkannter Philosoph und Unternehmer, als erster Kandidat der Transhumanisten für die Präsidentschaftswahl 2016 kandidieren.

Das Potential zur Befreiung von gegenwärtigen Beschränkungen der Menschen sehen Transhumanisten in der Verbindung verschiedener Forschungsfelder – Medizin, Genetik, Biochemie, Nanotechnologie und Informatik, die in ihren Augen durch die Entwicklung von Computern ohnehin zusammenwachsen. Kurzweil legt den Fokus auf die Digitalisierung des Körpers, die ermöglichen würde, den Menschen oder einzelne seiner Teile künstlich nachzubilden.

Dafür müssen der Körper und seine Prozesse erst einmal komplett lesbar gemacht werden. Das ist nach Ansicht vieler Forscher immer wahrscheinlicher: Der Mensch sei eine „Menge von Prozessen“, die sich in „humanoiden“ Robotern nachbauen ließen, schrieb Tony Prescott, Direktor des Zentrums für Robotik an der Universität Sheffield, kürzlich in der Titelgeschichte des „New Scientist“. Selbst die EU setzt auf die Digitalisierung des Körpers und hat letztes Jahr eine Milliarde Euro in das „Human Brain Project“ investiert, das das menschliche Gehirn simulieren will. So soll es möglich werden, einzelne Abschnitte von menschlichen Gehirnen gegen künstliche Gehirnteile, gegen Computerchips, auszutauschen und damit Krankheiten wie Parkinson zu besiegen.

Menschen werden nur eine überflüssige Spezies sein

Eine weitere Verheißung der Transhumanisten: Die Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz könnte den Menschen nicht nur medizinisch helfen, sondern in Form von immer intelligenteren Geräten auch den Alltag weiter erleichtern. Solche Roboter könnten dann lästige Arbeiten übernehmen.

Dass dieser Weg in eine schöne neue Welt führt, in der die Menschen Seite an Seite mit immer klügeren technischen Gehilfen über ihre biologischen körperlichen Grenzen hinauswachsen, glauben aber nicht alle. Ängste, dass Menschen Wesen erschaffen, die ihre Schöpfer schließlich unterjochen, sind zwar mindestens so alt wie die Geschichte von Frankenstein. Neu ist aber, dass ranghohe Wissenschaftler und Tech-Unternehmer sie äußern. „Wir werden nicht mithalten können, wir werden nur eine überflüssige Spezies sein. Wie wir Menschen es mit lästigen Fliegen tun, so werden uns die Roboter ausmerzen“, meint Hugo de Garis, einer der ersten Forscher zu künstlicher Intelligenz, schon seit Jahren. Und jetzt warnt auch Stephen Hawking: „Die Entwicklung von vollständig künstlicher Intelligenz könnte das Ende der menschlichen Spezies bedeuten.“ Sogar Bill Gates rät zur Vorsicht, und Nick Bostrom, Philosophie-Professor in Oxford und Mitgründer des „Centre for the Study of Existential Risk“ in Cambridge, zählt die Entwicklung künstlicher Intelligenz neben einem Nuklearkrieg zu den schwersten Bedrohungen für die Existenz der Menschheit.

Google, die EU und Thinktanks wie das der Singularity University von Ray Kurzweil oder das Future of Humanity Institute an der Universität Oxford wollen Krankheit und Leid bekämpfen und dafür die Grenzen der Natur überwinden. Doch überwinden ihre transhumanistischen Projekte damit auch die Menschheit an sich? Sind die existentiellen Bedenken berechtigt?

Die Diskriminierung von Transhumanisten

„Es liegt in unserer Hand, wofür wir künstliche Intelligenz einsetzen und welche Roboter wir erschaffen“, sagt Miriam Leis, Mitglied der transhumanistischen Gesellschaft Deutschland und Thinktank-Manager am Fraunhofer-Institut zur Technikfolgenabschätzung. Sie sitzt im Café des Jüdischen Museums in München. Gestern war Christi Himmelfahrt, und heute spricht Leis darüber, ob die Erde dank der Computer ein bisschen himmlischer für die Menschen werden kann. Sie ist optimistisch. „Aber wir müssen die richtigen Entscheidungen treffen“, sagt sie. Transhumanismus bedeutet für Leis zuallererst, sich mit den technischen Möglichkeiten zu befassen, die „neue Realität“ zu erkennen. „Der Humanismus fragt, wie man das Beste aus der menschlichen Natur machen kann. Der Transhumanismus stellt diese Natur in Frage, um aus dem technischen Fortschritt das Beste für den Menschen zu machen.“

Leis ist zwischen Japan und Deutschland aufgewachsen, war schon als Kind fasziniert von Cyborgs und dem Weltall und kontaktierte als Jugendliche die ersten Transhumanismus-Newsgroups, die es bereits in den frühen Neunzigern im Internet zu finden gab. So war ihr plötzlich der Austausch mit Menschen möglich, die sich ebenso sehr für die Veränderung der Welt durch Computer und Technik interessierten wie sie. „Die saßen natürlich alle in den Vereinigten Staaten“, sagt Leis. Doch schon ein paar Jahre später, 1998, gründete sich die Deutsche Gesellschaft für Transhumanismus, deren Mitglied sie bald wurde. Da hatte Leis gerade angefangen, in Konstanz Soziologie zu studieren, das Fach, in dem sie sieben Jahre später promovierte. Thema ihrer Dissertation: „Die Entwicklung von Robotern im Vergleich zwischen Japan und Deutschland“.

Doch Leis hat der Universität den Rücken gekehrt. Für einen kurzen Moment lässt die Euphorie in ihrer Stimme nach, sie will über die Diskriminierung von Transhumanisten sprechen, darüber, dass sie vor allem im deutschen akademischen Betrieb mit Vorurteilen konfrontiert gewesen sei. Sie hatte eine wissenschaftliche Karriere angestrebt, hatte eine Stelle, unterrichtete. Dabei sei sie jedoch zensiert worden, transhumanistische Texte seien ihr aus dem Lehrplan gestrichen worden. Bei Vorträgen habe man erwartet, dass sie sich mehr distanziere von diesen Ideen. „Die Deutschen tragen so eine Risikobrille“, sagt Leis.

Die sozialdemokratischen Transhumanisten

Aber langsam ändere sich das. Die transhumanistische Gesellschaft hierzulande sei stark gewachsen in den letzten Jahren und dabei auch immer heterogener geworden. Hacker und Menschen mit Asperger-Syndrom seien von Anfang an dabei gewesen, Leute aus der Wissenschaft, der Umweltbewegung und KI-Rechtler, also Menschen, die sich für die Rechte von Robotern einsetzen. Neu dazu kämen nun immer mehr Unternehmer. Nach außen ist nicht sichtbar, wer Mitglied ist, wer sich als Transhumanist bezeichnet. Doch das wird sich ändern: Auch die erste deutsche transhumanistische Partei ist in Planung, seit März wird an einer Satzung gearbeitet, eine eigene Website gibt es schon. Während die amerikanische Szene eher wirtschaftsliberal sei, erzählt Leis, seien die deutschen Transhumanisten großteils sozialdemokratisch eingestellt.

Informationstechnik soll zur egalitären Verteilung von Bildung und der Minderung von Leid eingesetzt werden, findet Leis. So befürwortet sie gleichermaßen den Netzausbau wie die weitere Entwicklung von Maschinen, die den Menschen beim Denken und Lernen helfen. „Die den Menschen dienen“, fasst sie zusammen. Von außen wie von innen, also durch invasive Methoden wie in der prophetischen Apple-Werbespot-Parodie oder eben von außen in Gestalt von humanoiden Robotern, die diverse Dienste übernehmen könnten. Für beides ist in dieser Ideologie die Entwicklung von Computern, Chips oder Maschinen notwendig, die den Menschen, ihrer Funktionsweise und einzelnen Teilen wie dem Gehirn immer ähnlicher sind.

„Solche Maschinen könnten wir für all die Tätigkeiten einsetzen, die früher Sklaven verrichten mussten und bei denen auch heute immer noch Arbeiter ausgebeutet werden. Menschen könnten sich dann der Kultur, den Künsten und der Wellness widmen, alle wären gebildeter, die Grundlagenforschung würde aufblühen.“ So Leis’ Vision. „Doch man sollte nicht forcieren, Roboter zu erschaffen, die eigene Bedürfnisse entwickeln, die dann Lohn oder einen freien Sonntag fordern.“

Alles ist programmierbar

Aber könnte eine Maschine überhaupt Gefühle entwickeln, Ziele und Absichten verfolgen? Warum sollte sie das tun? Basieren Emotionen nicht auf Geburt und Tod? Und dem, was dazwischen liegt: Dem Leben, das aus einer Vereinigung entsteht? Basieren Emotionen nicht darauf, dass ein Lebewesen nie autark ist? Ist das nicht der Grund dafür, dass Menschen Liebe, Begehren und Empathie kennen, Hunger, Angst und Schmerz? „Der Selbsterhaltungs- und damit auch der Fortpflanzungstrieb sind doch auch nur Programmierungen“, antwortet Leis, „biologische Programmierungen.“ Und somit würden sie sich in der Maschine imitieren lassen?

Genau so sieht es Ray Kurzweil. Auf die Frage, ob ein Computer denn ein Bewusstsein, Humor oder Zweifel haben kann, verweist Kurzweil auf einzelne Abschnitte in seinem Buch „How to Create a Mind“, in denen er die Vorstellung eines Bewusstseins dekonstruiert, das mehr sein soll als die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung. Und zu einer solchen Fähigkeit könne auch eine Maschine programmiert werden. Identität sei ebenfalls nichts anderes als die Kontinuität der Muster von Information, die „uns“ ausmachen. Erfahrung würde sich in diesen Mustern an Informationen im Gehirn niederschlagen. So lautet Kurzweils Kurz- und Zusammenfassung der verschiedenen Humanwissenschaften: Kultur und Biologie, Sozialisation und Gene vereinen sich zum digitalen Code eines jeden Menschen, und der kann schließlich kopiert werden. Unsere Körper, wie sie bislang funktionierten, seien wunderbar und hätten uns weit gebracht, jetzt aber würden wir aus guten Gründen ein nachhaltigeres Substrat für unsere Identitäten entwickeln, so Kurzweil.

In seiner Perspektive kann ein Mensch nicht mehr sein als ein Netz aus Datenströmen, das sich einem Computer gleich programmieren lässt. Die Analogie zwischen Mensch und Maschine ermöglicht erst die Erweiterung von Leis’ postkapitalistischer Vision, in der die Maschinen alle ausgebeuteten Arbeiter ablösen, zum komplett transhumanistischen Traum, in dem der Mensch allein Herr seines Körpers wird. Wenn es nach Kurzweil geht, ist die Angst vor dem Ende der menschlichen Existenz damit unbegründet: Es werden keine Roboter entstehen, die den Menschen überlegen sind, sondern die Menschen selbst werden sich durch die Maschinen zu einer höheren, intelligenteren, unsterblichen Spezies entwickeln.

Lässt sich der Mensch in Zahlencodes abbilden?

„Das ist eine Illusion“, sagt Raúl Rojas, Informatikprofessor an der Freien Universität Berlin (FU), der zu künstlicher Intelligenz und neuronalen Netzen forscht. Rojas wurde bekannt durch die Entwicklung von Fußball-Robotern, die für die FU im Robo-Cup zweimal den Weltmeistertitel gewonnen haben, 2014 wurde er von der britischen Computer Conservation Society ausgezeichnet und deutschlandweit zum Hochschullehrer des Jahres gewählt. Zurzeit arbeitet er an einem sich selbst steuernden Auto, mit dem er einen automatischen Fahrdienst für alle ermöglichen will. Rojas ist also weder technikfeindlich noch phantasielos – aber was die Transhumanisten verkünden, empört ihn. Es ärgert ihn, weil es seiner Ansicht nach unwissenschaftlich ist. „Wir wissen überhaupt nicht, wie ein Gehirn funktioniert, wo die Erinnerung sitzt, wie Träumen funktioniert. Der Mensch ist ein analoges, physikalisches System, das hoch komplex sowie ganz fein abgestimmt und geregelt ist und sich deshalb nicht diskretisieren, also nicht in Zahlencodes abbilden lässt.“

In seinen Augen liegt der Abbildungslogik von Ray Kurzweil ein dualistisches Verständnis des Menschen zu Grunde, das den Leib als Hardware sieht, der sich trennen lässt von der steuernden Software. Während die postmoderne Philosophie bemüht ist, ihrer Disziplin die letzten Spuren der Körper-Geist-Trennung, des philosophischen Erbes René Descartes’ auszutreiben, kehren die „Singularians“, wie die Transhumanisten rund um Kurzweil genannt werden, genau dazu radikal zurück: In cartesianischer Manier wird der Körper als neutral erachtet in Bezug auf die Frage danach, was eine Person ausmacht. Damit wird der Körper austauschbar, reproduzierbar. „Aber man kann das ,Ich‘ nicht vom materiellen Substrat trennen. Wir sind, was wir sind, weil unsere Zellen nicht rechnen, sondern chemisch und physikalisch interagieren. Wir sind eben die Hardware, die uns trägt. Versagt die Hardware, ist leider Schluss“, sagt Rojas.

Aber was ist, wenn Hard- und Software gar nicht getrennt werden müssen zur Reproduktion und Veränderung von Teilen und Prozessen des menschlichen Körpers inklusive seines Gehirns? Anders als ihr Prophet, Ray Kurzweil, setzen nicht alle transhumanistischen Strömungen auf die Überwindung biologischer Zellen: Auf der Website der Gesellschaft für Transhumanismus finden sich in letzter Zeit vor allem Artikel zur Entwicklung der Gentechnologie. Und diese Entwicklung nehmen auch Kurzweils Kritiker ernst. „Nicht die Informatik, sondern die Biochemie wird die entscheidende Wissenschaft des 21. Jahrhunderts“, sagt auch Raúl Rojas. So lassen sich Menschen zwar vielleicht nicht in Robotern nachbauen, aber doch in Fleisch und Blut noch optimieren, ein paar Chips unter der Haut inklusive.

Alles für die Leistungsoptimierung

Für Google oder die EU mag der Fokus auf das falsche Forschungsfeld verlustreich sein, für die transhumanistische Idee ist es dagegen egal, ob ein Mini-Roboter wie das Nanobot in der Blutbahn Krebszellen besiegen oder ob es ein biochemisches Mittel sein wird, das den Alterungsprozess aufhält, indem es das Erbgut verändert. Hauptsache, „die Natur“ wird überwunden, der Körper unter Kontrolle gebracht. Bis Menschen genauso wenig leiden oder sterben müssen wie Computer. Bis sie Cyborgs sind.

Für Miriam Leis war Mitte der Achtziger das Cyborg-Manifest der Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway prägend, ein Manifest, das eine postmoderne, postpatriarchale, postkapitalistische und postgender Gesellschaft in Aussicht stellt. Haraways Cyborg ist eine ironische Metapher für eine neue Dimension des Kapitalismus und gleichzeitig der Verweis auf die ihm innewohnende Möglichkeit des Widerstands: Cyborgs sind in Haraways Vision kybernetische Hybride aus Maschinen, Artefakten und Organismen, die überkommene Hierarchien zwischen Physikalischem und Nicht-Physikalischem, Mensch und Tier, Kultur und Natur, Mann und Frau aufheben. Sie sind zutiefst Effekt des Kapitalismus und deshalb auch verwoben mit der Informatik der Herrschaft – und doch wohnt ihnen emanzipatives Potential inne für neue Formen der Solidarität und Subversion.

In Kurzweils Texten und den Programmen der transhumanistischen Parteien wird man keinen Verweis auf Haraway finden. Die erste Prämisse des transhumanistischen Weltbildes, das die amerikanische Partei formuliert, lautet: Ein Transhumanist muss die Sorge um seine eigene Existenz über alles andere stellen. Die neue Cyborg-Vision hat jeden Wunsch nach Kollektivität und Herrschaftskritik verloren. Dafür passt sie gut in eine Gesellschaft, in der jene Technologien gefördert werden, die erstens zahlungskräftige Interessenten finden – Kurzweil vertreibt neben seiner Tätigkeit bei Google etwa schon parallel diverse teure Anti-Aging-Mittel über seinen Online-Shop – und zweitens der allgemeinen Direktive der Effizienz- und Leistungsoptimierung entsprechen.

Leben, um noch effizienter leben zu können

Jener transhumanistische Traum ist nicht neu, in ihm verschmelzen neoliberale Ideologie, Technodeterminismus und Biopolitik nur noch weiter. Vom Armband am Handgelenk, das die Schritte zählt, den Puls misst und die Kalorienzufuhr im Blick hat, zum Chip, der sich dafür gleich unter die Haut schieben lässt: Die Selbstvermessung zur Optimierung des eigenen Lebens ließe sich damit noch effizienter gestalten, die Optimierungsmöglichkeiten könnten quasi optimiert werden. Leben, um noch effizienter leben zu können. Die biotechnologische Aufrüstung des Menschen mit transhumanistischen Technologien, die Gehirn-Computer-Schnittstellen nicht nur in medizinischen, sondern auch in alltäglichen Lebensbereichen einsetzen, mit Implantaten zur Steigerung der kognitiven Fähigkeiten oder zur Stabilisierung gesunden Körpergewebes, scheint dann doch nicht so abwegig.

„Alle wünschen sich doch ein langes Leben“, sagt Miriam Leis. In ihren Augen gehen die Transhumanisten aber bereits ehrlicher mit Fragen um, die sich in einer hochtechnologisierten Gesellschaft stellen, wie eben die nach der Gestaltung des Lebens und Sterbens. „Die Politik investiert immer mehr in Programme für gesundes Altern, aber sie thematisiert den Kontext nicht.“ Das Bundesforschungsministerium etwa ist beteiligt an der milliardenschweren europäischen Innovationspartnerschaft „Aktives und gesundes Altern“, das bis zum Jahr 2020 den europäischen Bürgern ein längeres Leben in Unabhängigkeit und in guter Gesundheit ermöglichen will, wie es in der Programmbeschreibung heißt. Wie der Tod aussehen soll, wenn die Leute bis dahin gesund sind, steht nirgends. Leis glaubt, dass es nur eine konsequente Entwicklung der Medizin sei, zu dem Punkt zu kommen, an dem die Menschen die Länge ihrer Lebensspanne selbst bestimmen können. Und dann drückt man auf einen Knopf und das Leben ist vorbei? Vielleicht, sagt Leis.

Wo fängt Leid an?

Wenn es nach den Transhumanisten geht, so Leis, soll die Technologie so entwickelt werden, dass „das Beste für den Menschen“ möglich ist: „Freiheit und Autonomie, Lebensqualität und die Eliminierung ungewollter Lebenseigenschaften“. Ähnlich hören sich die Ziele der europäischen Innovationspartnerschaft an, des „Human Brain Projects“ und die Leitlinien von Googles Initiative zur Abschaffung des Todes. Als „ungewollte Lebenseigenschaften“ gelten auch jenseits der transhumanistischen Szene diverse Krankheiten, die jeder Einzelne bereits selbstverantwortlich vorbeugen kann. „Lebe (und sterbe) selbstbestimmt“ lautet der Imperativ der Gegenwart, der sich damit selbst untergräbt, gerade weil er so tief internalisiert ist.

Als „ungewollte Lebenseigenschaften“ gelten auch Behinderungen, die werdende Eltern, so der Appell der Präventionsgesellschaft, über Pränataldiagnostik erfassen sollten. In der Forschung gewinnt diesbezüglich ebenfalls vor allem die Weiterentwicklung der Genmodifizierung an Relevanz: In den Augen der Transhumanisten soll sie bald ermöglichen, nicht nur das eigene Leben und Sterben, sondern auch die Produktion weiteren Lebens, den Nachwuchs selbstbestimmter zu gestalten, etwa keine Kinder mit Behinderungen mehr zu produzieren. Jeder könne sich mit dem Wunsch identifizieren, den Genpool der künftigen Kinder so zu modifizieren, dass der Nachwuchs nicht leiden muss, meint Leis. Aber die Chancen und Risiken von Gen-Editing müssten gesellschaftlich mehr diskutiert werden, findet sie. Zum Beispiel die Frage, wo Leid anfange.

Lassen sich die Gene der eigenen Kinder erst einmal nach Belieben zusammenstellen, wird wohl kaum jemand ein Kind gebären wollen, das diskriminiert werden könnte. „Die Biologie der Menschen lässt sich schneller ändern als ihre Kultur – wir wissen, wie hartnäckig beispielsweise Rassismus ist“, sagt Leis. Das ist die neue Variante der Cyborg-Vision: Will ich meinem Kind die besten Chancen bieten, was wähle ich? Weiß, männlich, hetero, 1,80 groß, die Schultern breit, die Hüfte schmal? Mehr IQ kann ich später per Chip nachkaufen.