DIE ZEIT
Februar 2022
Vor drei Wochen schrieb Mariam Lau hier im Feuilleton über die gesellschaftspolitischen Reformen der neuen Bundesregierung und befand, dass die Ampel vor allem in einem Punkt zu weit gehe: „Der weiße Elefant im Raum ist das Thema Transsexualität“. Dabei ist gerade die Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes so überfällig wie kaum eine andere Reform.
Endlich soll das diskriminierende „Transsexuellengesetz“ abgeschafft werden. Ein Gesetz, das Menschen pathologisiert, die nicht krank sind. Ein Gesetz, das krank machen kann. Das trans Menschen zur juristischen und formalen Anerkennung ihrer Identität seit 40 Jahren eine Prozedur vorschreibt, bei der Gutachterinnen monatelang intime Körpererfahrungen und Sexualpraktiken abfragen und am Ende Richterinnen darüber entscheiden, ob die Menschen ihren offiziellen Geschlechtseintrag dem gelebten Geschlecht anpassen dürfen. Das neue Selbstbestimmungsgesetz soll solche Änderungen auf dem Standesamt möglich machen — durch Selbstauskunft statt durch Verhöre. Für Betroffene und Angehörige ist die Reform bitter notwendig, und auch Fachleute haben seit Jahren auf ihre Notwendigkeit verwiesen.
Doch der Aufschrei konservativer Kräfte gegen das Selbstbestimmungsgesetz ist groß und manch liberale Stimme schließt sich an. Immer wieder wird die Behauptung verbreitet, trans sei ein Mode-Phänomen, das die Bundesregierung nun stärke. Die NZZ schreibt von der autoritären „Transgender-Ideologie“, die Jugendliche verführe. In der Welt heißt es, Jugendliche seien zunehmend verleitet, sich als trans zu identifizieren und damit medizinische Veränderungen an ihren Körpern vorzunehmen, die sie später bereuen — was nach neuen Studien bei weniger als 0,5 % der Betroffenen vorkommt. Kronzeuge für die Mode-These ist der Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte, der als einer der letzten Experten an der an der Begutachtungspflicht festhält und deshalb in Fachkreisen umstritten ist. Und doch ist er derjenige, den die großen Zeitungen befragen.
Tatsächlich outen sich weltweit immer mehr Menschen als trans. In den Vereinigten Staaten von Amerika gaben 2021 nach den Angaben des PEW Research Center 42 Prozent der Befragten an, persönlich jemanden zu kennen, der oder die transgender sei — fünf Prozent mehr als im Jahr 2017. Und auch in Deutschland verzeichnen die Anlaufstellen für trans Jugendliche seit Jahren einen Anstieg. Für diese Entwicklung findet die Wissenschaft mehrere Gründe: Erstens geben die Gesellschaften, in denen sich der Trend beobachten lässt, trans Menschen mehr Raum und Sichtbarkeit als früher. 2015 brachte Vanity Fair die erste trans Frau auf das Cover, während sich zeitgleich in Australien mehrere Politiker als transgender outeten. In Deutschland nahmen 2017 das erste Mal zwei Kandidatinnen bei Germanys Next Topmodel teil, die bei der Geburt als Jungen eingeordnet worden waren; 2021 zogen die ersten beiden trans Frauen in den Bundestag. Zweitens können Kinder und Jugendliche, die unter der Geschlechter-Zuschreibung durch ihren Pass und die Eltern leiden, sich heute – anders als früher – im Internet finden, Erfahrungen und Informationen teilen. Drittens gibt es deutlich mehr Anlaufstellen und Beratungen für trans Menschen als noch vor 20 Jahren. In der Schweiz zum Beispiel eröffnete die erste Trans-Sprechstunde in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Zürich erst 2009. Viertens hat sich vielerorts auch die Politik den Bedürfnissen schon angepasst: In Argentinien, Irland und Dänemark etwa reicht längst ein schlichter Verwaltungsakt, um den Geschlechtseintrag zu ändern.
Dass die Bundesregierung an den medizinisch-psychiatrischen Untersuchungen festhielt, kritisierten gerade diejenigen, die in Deutschland jahrzehntelang als Gutachter*innen gemäß dem „Transsexuellengesetz“ arbeiteten. Bereits 2015 appellierten mehrere Mediziner*innen nach einer Auswertung von 670 solcher Gutachten an die Bundesregierung, die alte gesetzliche Regelung durch ein Verfahren der Selbstbestimmung zu ersetzen. Darunter Bernd Meyenburg, der ab 1989 die erste deutsche Spezialsprechstunde für transidente Kinder und Jugendliche am Frankfurter Universitätsklinikum aufbaute und als Hauptautor für die Erarbeitung und Aktualisierung der bundesweiten Behandlungsleitlinien für transidente Kinder und Jugendliche verantwortlich ist. Meyenburg und seine Kolleg*innen sahen in den Untersuchungen eine extreme Belastung für die Betroffenen. Ihre Erfahrung zeigt, dass die Menschen selbst am besten wissen, welches Geschlecht sie haben, und dass sie dafür keine Begutachtung durch andere brauchen.
Jeder Mensch hat eine individuelle Geschlechtsausprägung. Die begründet sich, anders als lange angenommen, nicht durch die Chromosomen, also auch nicht durch die vermeintlich primären Geschlechtsmerkmale. Sicherlich: Es gibt Körper, die menstruieren, und andere, die Samen produzieren, und die meisten Körper heute können eines von beiden. Doch deshalb ist noch lange nicht festgelegt, dass sie entweder Mann oder Frau sind, zwei Kategorien, die ohnehin nicht jenseits der gesellschaftlichen Einordnung existieren. Die individuelle Geschlechtsausprägung eines jeden Menschen ist hochkomplex und von verschiedenen Faktoren geprägt, von der hormonellen Gesamtsituation eines Körpers etwa. Und auch von der Umwelt.
Gerade die strikte Aufteilung der Menschen in Mann und Frau, die unsere Gesellschaft immer noch strukturiert, prägt eine jede von Geburt an. Und die Begutachtungsprozedur, die das alte Gesetz erforderte, zwang trans Menschen, sich jenem alten Geschlechter- und Körpermodell unterzuordnen, das nur zwei Typen kennt: zwei vermeintlich von Natur aus unterschiedliche Wesen mit angeblich jeweils klar definierten Körpern, die im Zweifel angepasst werden müssen.
Obwohl es so viele Geschlechter wie Menschen gibt. Die Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes kann nun „diversifizierte Lösungen im Hinblick auf Identität und körperangleichende Maßnahmen“ ermöglichen, wie Meyenburg in seiner letzten, 2021 veröffentlichten Studie schreibt. Die Zunahme von Menschen, die sich als trans artikulieren, bedeutet: Dass sie mehr das sein können, was sie selbst als richtig empfinden. Und mit dem Selbstbestimmungsgesetz wird dieser Schritt erleichtert und vom Stigma befreit.
Dafür kämpfen vielerorts, anders als Laus Text es suggeriert, anders als Autor*innen der „Emma“ es behaupten, junge Menschen, junge Feminist*innen. Die neue feministische Bewegung, die sich in den vergangenen Jahren stark vernetzt hat, schließt trans Menschen und den Einsatz für ihre Freiheit mit ein. Und das ist nur logisch, wollen Feminist*innen doch das Patriarchat überwinden, eben jene Ordnung, die die Menschen einteilt in zwei vermeintlich wesenhaft schon vor der Geburt zu unterscheidende Gruppen, von denen die eine besser ist als die andere. Eine Ordnung, die Frauen abwertet und alle, die nicht in das Bild der natürlichen Geschlechtsidentität passen, erst recht.
Eine Ordnung, die brutal verteidigt wird. Während die Sichtbarkeit von trans und nicht-binären Menschen zunimmt, nimmt gleichermaßen trans- und queerfeindliche Gewalt zu. 2021 meldet das Trans Murder Monitoring der Menschenrechtsorganisation Transgender Europe 375 ermordete trans Personen weltweit. Das sind 7 Prozent mehr als im Vorjahr und so viele wie noch nie seit der ersten Erhebung im Jahr 2008.
Es sind vor allem rechte Agitatoren, die gegen trans Menschen hetzen, indem sie die Sitte, das Leben von Anfang bis Ende in einem von zwei Geschlechterkorsetten zu verbringen, als natürlich verteidigen. Eine Annahme, an der aber auch bis in die Mitte der Gesellschaft festgehalten wird. Dabei ist sie ist nicht nur durch die Naturwissenschaft widerlegt. Auch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es noch gar nicht so lange her ist, da wurden Geschlechtergrenzen als weniger starr, ja als prinzipiell instabil wahrgenommen und darin lag die Chance auf mehr Entfaltung und Erfahrung für alle. Wie sich etwa in der Biographie von Thomassen Hall zeigt, der im 17. Jahrhundert bei der Geburt als weiblich eingeordnet wurde, später als junger Mann in den Krieg zog, danach als Frau lebte, wieder als Mann auf Reisen ging und den Lebensabend als Kammerzofe verbrachte. Und wie auch der Blick auf die vielfältigen geschlechtlichen Identitäten offenbart, die in einigen indigenen Gesellschaften vor der Kolonisation gelebt wurden. Eine Chance, die sich dank der neuen Entwicklungen wieder auftut?
Endlich verbreiten sich die Stimmen von trans Autorinnen und Autoren. Endlich wird ihre Expertise in Geschlechterfragen ernst genommen. Nora Eckert etwa erzählt in ihrem wunderbaren Buch „Wie alle nur anders“ von ihrer Selbstfindung als trans Frau im Berlin der 70er Jahre und bekundet dabei die Selbstbehauptung eines Menschen, der die binäre Geschlechterordnung herausfordert. Das zentrale Geschlechtsorgan sitzt zwischen den Ohren, schreibt auch sie. Die 68-Jährige ist heute im Vorstand des Vereins TransInterQueer, der dafür eintritt, dass alle Menschen gleichermaßen frei sein sollten, egal welches Geschlecht sie haben. Wäre die Welt dann nicht für alle besser?