Ist das wirklich genau so gewollt – von Gott oder der Natur: dass Kinder bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen und man zusammen eine Kleinfamilie bildet? Feminist*innen haben ein paar neue radikale Ideen.

Frankfurter Allgemeine Quarterly
November 2020

Die Gender-Ideologie will die Kleinfamilie abschaffen, rufen die Rechten alarmiert. Ihre Anhängerinnen wüssten weder Gott noch Natur zu schätzen, sie wollten die Familie, die Grundlage unserer Gesellschaft, zerstören! Und die Alarmierten haben ausnahmsweise recht: Während sie selbst von einer Zeit träumen, als angeblich jede deutsche Frau glücklich am Herd stand, wenn sie nicht gerade das Volk reproduzierte und den Nachwuchs aufzog, als also jede Frau ein Baby im Arm wiegte, so wie das auf einem Wahlplakat der AfD zu sehen war, rufen die ideologischen Gegner zur endgültigen Beseitigung der Familie auf.

„Abolish the family“ heißt es vor allem im englischsprachigen Netz immer häufiger. Manche radikale Theoretikerinnen wünschen sich dabei nicht nur mehr Akzeptanz für Familienmodelle jenseits von Mutter, Vater, Kind. Nein, sie fordern gleich die Abschaffung des Konzepts biologischer Elternschaft. Die Feministin Shulamith Firestone hatte schon in den siebziger Jahren die Vision, dass Kinder dank moderner Fortpflanzungstechnologie in Brutstationen entstehen und in Wohngemeinschaften ihrer Wahl groß werden könnten, dass es also Mutter und Vater nicht mehr gäbe.

Die neuerliche Diskussion hat unter anderem die Autorin Sophie Lewis angeregt, die sich zwar nicht gegen Schwangerschaften wendet, aber das Dogma der Abstammung angreift, das Kleinfamilien zusammenhalte. „Full Surrogacy Now“ heißt ihr Buch, das im renommierten Verso-Verlag erschien, auf Deutsch „Volle Leihmutterschaft jetzt“. Bei einer Leihmutterschaft werden Menschen mit Uterus bereits befruchtete Eizellen anderer Menschen eingesetzt, sie tragen also Kinder aus, die nicht ihre „eigenen“ sind. Lewis`Forderung ist vor allem als Kritik an der gegenwärtigen Vormachtstellung biologischer Eltern im Leben der Nachkommen zu verstehen, Lewis setzt ihr „Polymutterschaften“ und „Schwangerschaftskommunismus“ entgegen. Wie bei Firestone würden Kinder in Lewis` Vision auch nicht einfach automatisch mit Eltern aufwachsen, von denen sie genetisch abstammen.

Lewis’ Gedankenspiel mag für viele nach einem dystopischen Horrorszenario klingen. Greift sie doch genau jenen Prozess an, der als letzte Gewissheit, als unveränderbare Natur erscheint: die Fortpflanzung. Doch was ist Natur? Es geht Lewis und den anderen Kritikerinnen gerade darum, zu zeigen, wie viel von dem, was uns als natürlich und deshalb als richtig gilt, zum Nutzen der jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnisse entstanden und gewachsen ist. Auch M. E. O’Brien fordert in ihrem Buch „To Abolish the Family“ bereits im Titel die Abschaffung der Familie. Das Ziel ihrer radikalen Familienkritik ist nicht so sehr ein konkretes neues Modell, das an die Stelle der Kleinfamilie treten sollte, sondern die Kritik am Hier und Jetzt, an jenen gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich in der Kleinfamilie immer wieder reproduzierten.

Die Kleinfamilie sei nicht „natürlich“, sondern ein modernes menschliches Produkt. Anders, als das die meisten Menschen annähmen, schreibt O’Brien, habe erst in der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft ein jeder Mann sich als freier Lohnarbeiter verdingen und heiraten, also eine Frau haben dürfen. Letztere hatte wiederum selbst kaum Rechte, durfte nicht wählen und nichts ihr Eigen nennen, sie war abhängig vom Mann und zur unbezahlten Haushaltsarbeit und Kindererziehung gezwungen. Die Kleinfamilie habe die Verbindung von Kapitalismus und Patriarchat institutionalisiert, darin sind sich die meisten Kritikerinnen einig.

Heute werden auch Mütter Chefinnen. Der Kapitalismus, so sagen seine Befürworter, steht der ökonomischen Emanzipation derjenigen doch nicht mehr im Wege, die das Patriarchat einst an den Herd verdammte, ganz im Gegenteil: Es liegt in seinem ureigenen Interesse, all jene, die als Arbeitskraft taugen, auch zu inkludieren.

Müsste die Familie nicht gerade deshalb, also angesichts der um sich greifenden Ökonomisierung, als Refugium gelten, wo die Menschen sich anders als in der Arbeitswelt nicht beweisen müssen? Als ein Hort der Geborgenheit, der die Menschen vor der endgültigen Zurichtung schützen kann? An dem niemand um etwas kämpfen muss?

Lewis und O’Brien widersprechen heftig: Die Familie sei kein Ort der Geborgenheit. Kampf und Konflikt würden in allen Schichten zum familiären Alltag gehören, das zeige ein Blick in die Statistik: Jede vierte Frau wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer ihres Partners oder Ex-Partners.

Die Verbreitung häuslicher Gewalt, so die Autorinnen, und die Tatsache, dass Frauen selbst in vermeintlich gleichberechtigten Beziehungen noch immer die Hauptlast im Haushalt und in der Kindererziehung tragen, hingen zusammen: Die Kleinfamilie werde ihr patriarchales Erbe nicht los. Sie funktioniere immer noch nach dem Grundprinzip: „Ein Mann und die Seinen“. Die er schützen, aber über die er auch verfügen kann. Und dieses Prinzip spalte die Welt fortwährend, in „die Männer“ und „die Frauen“, in Drinnen und Draußen, „wir“ und „die“. Die Kleinfamilie sei genauso angelegt wie der Nationalstaat: in sich abgeschlossen.

Eine Logik, wie sie vor allem den Rechten entspricht. Für Menschen, die das Volk biologisch definieren, bleibt die Kleinfamilie auch dessen Brutstätte – der Inklusionskraft des Kapitalismus zum Trotz soll jede Frau zur Mutter werden. „Neue Deutsche? Machen wir selber“, hieß es auf einem AfD-Plakat, das eine naturgemäß weiße, schwangere Frau zeigte.

Die neuerliche Kritik an der Familie ist damit auch als Reaktion auf den Rechtsruck in den Parlamenten in Europa und in Amerika zu verstehen: In Zeiten, in denen immer lauter nach einem rassistischpatriarchalen Ordnungssystem gerufen und dabei vor allem die vermeintliche Natur der Geschlechter, der Grenzen, der genetischen Abstammung behauptet wird, treten die Familienkritikerinnen an, genau jene alten Legitimationsmuster herauszufordern.

Selbst Lewis will mit ihrem provokanten Ruf nach „voller Leihmutterschaft“ vor allem zu Fragen inspirieren: Was ist das für eine Liebe, die ich für „mein“ Kind empfinde? Und könnte ich auch „andere“ Kinder lieben?

Selbst in der bürgerlichen Gesellschaft wuchsen viele Menschen lange Zeit noch nicht in der idealisierten Kleinfamilie auf, sondern bei Großeltern und Nachbarn, weil vielleicht ein Elternteil gestorben war oder beide arbeiten gehen mussten. In vielen Gebieten der Anden und in Teilen Westafrikas wird Elternschaft ganz anders verstanden: Es müssen nicht die leiblichen Eltern sein, die die Kinder aufziehen; bei den Baatombu im Norden Benins geben Eltern ihre Kinder nach der Geburt an andere Erwachsene weiter; das sei besser für alle.

Den Familienkritikerinnen geht es aber nicht darum, den Menschen wieder vorzuschreiben, wie sie sich zu reproduzieren haben. Lange genug waren schließlich die Lebensweisen vorgegeben. Lewis will darauf aufmerksam machen, dass Menschen sie selbst geprägt und geformt haben – und sie deshalb auch verändern können: Wir können verändern, wie wir uns fortpflanzen, wie wir unser Zusammenleben gestalten, Erziehung, Arbeit und (Liebes-)Beziehungen, schreibt sie.

Was wäre, wenn Kinder zumindest teilweise jenseits der biologischen Familien aufwachsen würden, von klein auf, fragen auch Jules Joanne Gleeson und Kate Doyle Griffiths in ihrem Essay „Kinderkommunismus“. Wäre das nicht die Basis einer neuen, solidarischeren Gesellschaft – oder wäre es der reine Totalitarismus? Auch Diktaturen neigen ja dazu, sich den Nachwuchs möglichst früh zu unterwerfen. Gleeson und Griffiths schlagen aber nichts anderes als ein gut ausgebautes Kita-System vor und führen ein altes sozialdemokratisches Argument an, das gerade in Deutschland (wo kaum Kinder studieren, deren Eltern nicht studiert haben) gilt: Im Schoß der Familien vererben sich noch immer die gesellschaftlichen Ungleichheiten.

Könnten Krippen und Kitas Orte der Fürsorge sein, Orte, an denen egal ist, welche Personen wessen Eltern sind, wer woher kommt, wer welche Chromosomen hat, Orte, die Menschen nicht festlegen, sondern in der Entdeckung ihrer individuellen, aber auch kollektiven Vermögen fördern? Könnte sich die ganze Gesellschaft nach dem Prinzip einer solchen Krippe entwickeln, wenn erst Menschen sie gestalten, die wiederum selbst in derart liebevollen Beziehungsgeflechten aufwachsen?

Es sei eine Anstrengung, sich die Welt ganz anders vorzustellen, aber eine, die sich lohne, sagt Lewis. Familienabolition bedeute nicht den Abbau von Beziehungen, sondern deren Vervielfältigung. In den familienkritischen Schriften und Diskussionen im Netz zeigt sich ein Bedürfnis nach Aufbruch, nach einem neuen Miteinander, nach einer Gesellschaft, die Nähe zwischen den Menschen fördert statt Konkurrenz.