Co-Autor: Benjamin Seibel
FAS
Januar 2013
Die Finanzkrise hätte es nicht gegeben, der Tsunami hätte nicht 230000 Menschen getötet, und auch Hitler wäre nicht an die Macht gekommen: Wenn alles nur besser gesteuert wäre. Dirk Helbing läuft mit großen Schritten auf das sozialwissenschaftliche Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich zu. Der Professor hat es eilig. Er will die Zivilisation retten. Mit Computern, die den Menschen helfen, sich selbst zu steuern. Und um diese Computer zu bauen, braucht Helbing eine Milliarde Euro – die Hälfte davon soll die EU bezahlen.
Sein Projekt hat es in die letzte Runde des „Future and Emerging Technologies“-Wettbewerbs der EU geschafft – noch nie zuvor wurden so hohe Fördermittel an Forscher vergeben. Wenn Helbing und sein Team gewinnen, wollen sie das gesamte Geschehen auf der Welt mit einem Supercomputer simulieren: Sämtliche verfügbaren Informationen über alle und alles, von überall, sollen permanent einfließen. So soll die Zukunft vorhersehbar werden.
„Wir verstehen die Zusammenhänge in der globalisierten Welt nicht mehr gut genug“, sagt Helbing. „Es fällt uns schwer zu sehen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, weil unsere Gehirne komponentenorientiert denken.“ Unsere Gehirne hätten Mühe, das Zusammenspiel des Handelns vieler Akteure zu verstehen. „Deshalb unterschätzen wir Kettenreaktionen, die zum Beispiel zur gegenwärtigen Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise geführt haben.“
Ein Jahr vor dem Banken-Crash unterhielt sich Helbing auf einer Konferenz in Dresden mit Vertretern der Europäischen Kommission. Keiner der Experten habe die Finanzkrise kommen sehen, sagt Helbing – außer ihm selbst. Er habe gewusst, dass es Kaskadeneffekte, wie er das nennt, geben würde, und erkannt, dass die Politik das nicht versteht. Da sei ihm klar geworden: Die Zeit ist reif für sein Projekt zur Berechnung der Welt. „FuturICT“, was, entknotet und ins Deutsche übersetzt, ungefähr bedeutet: die Vorhersage der Zukunft mit Informations- und Kommunikationstechnik. Was die Gehirne der Politiker nicht leisten können, müsse die Technik erledigen. „Wir brauchen neue Erkenntnisinstrumente. Früher gab es ein Fernrohr, in Zukunft muss es Instrumente geben, die Feedback- und Kaskadeneffekte im Vorfeld erkennen lassen.“
Helbing steigt die Treppen zu einer dreistöckigen Stadtvilla empor. Als er Ende 2007 von Dresden an die ETH Zürich kam, war kein Platz mehr im Neubau gegenüber, in dem die Sozialwissenschaftler normalerweise untergebracht sind. Aber Helbing ist sowieso kein normaler Sozialwissenschaftler. Der gelernte Mathematiker und Physiker hat dreimal die Disziplin gewechselt. Eine Soziologie-Vorlesung hat er als Student nie besucht, jetzt hält er sie als Professor. „Die Grenzen zwischen den Disziplinen sind virtuell. Und sie stehen dem Verständnis der Welt von heute im Weg“, sagt Helbing. Als Physikstudent hat er sich gefragt, ob man, statt immer wieder Elementarteilchen zu beobachten, die zugrunde liegenden Formeln und Methoden nicht eher zur Beobachtung von Menschen und Gesellschaft nutzen sollte. Um zu verstehen, warum auf der Welt so viel schiefgeht und wie es besser laufen könnte.
Aus der Physik kannte Helbing das Phänomen, dass Stoffsysteme lange stabil bleiben, unter bestimmten Bedingungen ihre Zustände aber plötzlich ändern. In gewisser Weise schien das auch auf Menschengruppen zuzutreffen: So wie Wasser unter null Grad plötzlich gefriert, so können auch scheinbar stabile soziale Ordnungen innerhalb von wenigen Tagen zerbrechen. Die Finanzkrise war für Helbing ein perfektes Beispiel für einen solchen Zusammenbruch. Gerade in der globalisierten Welt könnte die Gefahr von Kettenreaktionen wachsen. Wie in der Physik, fand er, müsste man die zugrunde liegenden Gesetze erkennen, um solche Krisen vorherzusehen und abzuwenden.
Zuerst hat sich Helbing Fußgänger angeschaut – bei denen funktioniere alles reibungslos: Fußgänger überholen sich, laufen aneinander vorbei oder nebeneinander her, ohne sich gegenseitig zu behindern. Sie bahnen sich ihren Weg, trotz Gegenverkehr, trotz unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Auf Konferenzen zeigt Helbing Videoaufnahmen von Fußgängerzonen. „Sehen Sie“, sagt er dabei, „von ganz allein machen Passantenkollektive alles richtig. Da klappt die Selbststeuerung!“
Warum klappt sie aber nicht bei Autofahrern, die Staus verursachen, bei Fans der Loveparade, die sich in einen Tunnel drängten, bei Feueralarm im Kaufhaus oder bei Pilgern in Mekka? „Das Problem ist hierbei immer, dass das Ergebnis der Interaktion etwas ist, das keiner will. Selbstorganisation funktioniert bei diesen Kollektiven nicht.“ Auf dem Gebiet der Komplexitätsforschung wurde Helbing zur Koryphäe vor allem mit den Analysen des Straßenverkehrs und von „crowd desasters“ – das Wort „Massenpanik“ mag er nicht, es würde die Gründe für das Chaos in der Psyche suchen statt in der Physik. In Zusammenarbeit mit Verkehrsplanern und Behörden hat er die Sicherheit der Pilgerrituale in Mekka erhöht. Die Trophäe, die seine Leistung in arabischen Schriftzügen würdigt, steht auf dem Regal neben dem Schreibtisch.
Während er die Interaktion der Pilger von Mekka vorausberechnet hat, will er den Verkehr in Echtzeit programmieren. Auf einer Konferenz in Berlin im August präsentierte er mit einer Computersimulation, wie es zu Stau auf der Autobahn kommt. „Dieses Auto“, er deutete auf einen schnellen roten Sportwagen, „müsste nur ein bisschen langsamer fahren.“ Seine Simulation zeigt: Stau entsteht, weil Autofahrer keinen Überblick haben. „Wird die Interaktion aber leicht geändert, funktioniert alles störungsfrei!“
Aber wie soll die Interaktion geändert werden? Will Helbing die Autos alle mit einem Supercomputer verbinden, der sie entsprechend seinen Berechnungen fernsteuert? „Nein“, wehrt Helbing ab, „wir wollen keinen Big-Brother-Apparat entwerfen.“ Zusammen mit Volkswagen hat er computergestützte Assistenten für Fahrzeuge entwickelt. Sie kommunizieren miteinander und geben den Fahrern Ratschläge zur Geschwindigkeit. So braucht es keine Zentrale wie den Radiosender und seine Verkehrsmeldungen mehr. „Das ist Bottom-up“, erklärt Helbing.
Auch Ampeln programmiert er so, dass sie je nach Verkehr die Farbe wechseln. Darauf hat er ein Patent. „Verkehrsströme sollen die Ampeln steuern und nicht andersherum, der wohlmeinende Diktator funktioniert nicht. Die Komplexität der Welt kann nur mit mehr Dezentralität bewältigt werden.“
Helbing schließt die Tür zu seinem Büro. Eine breite Fensterfront öffnet den Blick auf die Stadt Zürich und die Alpen im Hintergrund. „Für ein visionäres Projekt muss man bis zum Horizont sehen und darüber hinaus denken können“, bemerkt Helbing leise. Er ist sich seiner Sache ganz sicher. Aber wie soll das, was gegen Stau hilft, auch Finanzkrisen, Naturkatastrophen und Bürgerkriege verhindern? Wie kann er das Modell des Verkehrsmanagements auf die ganze Welt übertragen? Wie soll das „FuturICT“ funktionieren?
„Es ist gar nicht kompliziert, man muss die gegenwärtige Situation nur richtig nutzen“, sagt Helbing. Er beginnt, mit Begriffen um sich zu werfen, die überhaupt nicht in diesen Altbau im Villenviertel passen: „Das FuturICT besteht aus drei Säulen, dem Planetary Nervous System, dem Living Earth Simulator und der Global Participatory Platform.“ Das planetarische Nervensystem soll bereits existierendes und neues Wissen zusammenbringen, zum Beispiel demographische Daten, Informationen über Finanzströme und Wirtschaftsentwicklungen oder epidemiologische Statistiken. Schon heute gibt es weltweit fast so viele Mobilfunkanschlüsse wie Menschen. Für Helbing ist jedes dieser Telefone ein kleiner Sender, der unentwegt Auskunft über die Verfassung des Besitzers gibt. Über Blogs, Facebook, Tweets, SMS, Telefongespräche und Fernsehquoten veröffentlichen Menschen längst Bewegungs- und Kontaktdaten, aber auch Informationen über ihre Gemütslage und Absichten. Mit Supercomputern soll das Planetary Nervous System diese Daten zusammenführen, einordnen und auswerten – die Daten sind dabei anonymisiert, um den Einzelfall geht es Helbing nicht. Die Computer melden dann etwa: „Das Vertrauen in die neue Regierung hat in der italienischen Bevölkerung um 44 Prozent abgenommen.“ Oder: „Die gegenwärtigen Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt weisen auf eine gefährliche Blase hin.“ Oder auch: „Die Gefahr der Ausbreitung eines Magen-Darm-Infekts in der Grundschule Hamburg-Eimsbüttel ist in den nächsten zwei Wochen um 50 Prozent erhöht.“ So lässt sich die dynamische Gesellschaft in Echtzeit verstehen – und dementsprechend berechenbar machen.
So steht es in den Anträgen zum „FuturICT“, und so erzählt es Dirk Helbing.
Der Living Earth Simulator, der lebendige Weltsimulator, so geht der Plan weiter, wird permanent mit den Daten des Planetary Nervous System gefüttert. Er ist eine Art Onlinekarte wie Google Maps – dabei jedoch dreidimensional und dynamisch. „Sie müssen sich das wie ein Imax vorstellen“, erklärt Helbing, „und durch Eingriffe in diese räumlichen Visualisierungen können Sie Zukunftsszenarien durchspielen.“ Im Fall des Staus ist das noch leicht vorstellbar: Auf der Leinwand des Imax erkennen wir dank der Berechnung der Computer, dass es zu Stau kommt. Also verlangsamen oder beschleunigen die Forscher das Auto in der Simulation so, dass alle flüssig weiterfahren können.
Das lasse sich laut Helbing auch auf die Politik übertragen: Mit einer Simulation, die ein Problemszenario im Zeitraffer durchspielt, können Lösungen gefunden werden. So könnte der Living Earth Simulator zum Beispiel erkennen: „Wenn Hamburger Schulen für zwei Tage geschlossen werden, wird der Magen-Darm-Infekt zu 90 Prozent eingedämmt.“ Oder: „Wenn der Lohn im öffentlichen Dienst in Italien um 5 Prozent gehoben wird, können Streiks verhindert werden.“
Der dritte Teil von Helbings Modell ist die Global Participatory Platform, eine weltweite Beteiligungsplattform. Helbing schwebt ein offenes Forum vor, in dem Privatpersonen, Unternehmen und Organisationen selbst Informationen abrufen und Handlungsmöglichkeiten durchspielen können. „So demokratisieren wir die Daten“, erklärt Helbing. „Unter den gegebenen Bedingungen wird die Initiative einzelner Menschen abgewürgt, obwohl sie sich stärker engagieren wollen. Stuttgart 21, Occupy und Wikipedia zeigen, dass viele Bürger gern einen größeren Anteil an der Gestaltung unserer Welt haben würden.“ In Helbings Vision sind alle Menschen „Produser“, also Produzenten und Nutzer gleichermaßen, so wie sie es zum Beispiel schon auf Facebook sind. So soll eine „Bürgerwissenschaft“ entstehen: Hobbyforscher würden das Modell kontinuierlich verfeinern oder die Erhebung von fehlenden Daten in Eigenregie vorantreiben.
Softwareentwickler könnten eigene Werkzeuge entwickeln. Bürger könnten die Ergebnisse des Modells diskutieren, NGOs Informationen über Handlungsstrategien einholen. Jeder könnte via Internet Fragen an das rechnende Orakel richten.
Noch ist Helbings Projekt eine Vision, die viele Fragen offenlässt. Die Entscheidung, ob Helbing die halbe Milliarde von der EU bekommt, soll noch im Januar fallen. Für das „FuturICT“ ist eine Entwicklungszeit von zehn Jahren eingeplant. Bis dahin müssen Indikatoren ausgewählt und Algorithmen entwickelt werden. Das sind keine einfachen Fragen, weil sie die Ergebnisse und da-mit unter Umständen auch politische Entscheidungen beeinflussen würden.
Angeleitet durch das „FuturICT“, aber dennoch selbstbestimmt sollen die Menschen sein – Helbing sieht sein Modell als Synthese zweier antagonistischer Organisationsmodelle: „Die einen sind für Regulierung, die anderen befürworten freie Märkte ohne Einmischung von oben. Die Lösung ist Selbstorganisation nach geeigneten Spielregeln.“
Aber wer entscheidet, was geeignet ist? „Die Gesellschaft selbst“, antwortet Helbing. Schließlich würde sein Modell mehr Demokratie ermöglichen, fügt er hinzu. Dass Kollektive wie „die Gesellschaft“ falsch liegen können, weiß er aber selbst – da verweist er gar auf den Holocaust. „Ich glaube an die Weisheit der vielen, an Schwarmintelligenz“, erklärt er, „aber die kann ins Gegenteil kippen, wenn die Bedingungen nicht gut sind. Dann kann es zu unerwünschten Prozessen sozialer Ansteckung kommen, etwa Herdenverhalten.“ Das sogenannte Dritte Reich sei so ein Beispiel.
Dazu komme es, weil Menschen den Überblick verlieren. „Um die Zusammenhänge verständlich zu machen, muss man ein Bewusstsein für die Feedback- und Kaskadeneffekte schaffen.“ Dank „FuturICT“ würden globale Prozesse wie zum Beispiel Verwertungsketten oder das Zusammenspiel verschiedener Finanztransaktionen transparenter für jeden Einzelnen werden. Aber dass unsere Gehirne für den Überblick nicht gemacht sind, hat Helbing schon mit dem Stau-Beispiel bewiesen. Deshalb müssten Computer die „guten Bedingungen“ aufzeigen. Die Computer müssen den Menschen helfen bei der freiwilligen Selbst- und Kollektivkontrolle. „Wenn die Entscheidungsprozesse richtig aufgesetzt sind, können die Fähigkeiten der Einzelnen so zusammengebracht werden, dass Schwarmintelligenz funktioniert und etwas entsteht, das intelligenter ist als jeder Einzelne.“ So, dass alles reibungslos verläuft. „Es geht darum, die Menschen im Mittel zufriedener zu machen.“
Auch sein Team arbeite so. Helbing betont, dass er sich das „FuturICT“ nicht allein ausgedacht habe: „FuturICT“ kooperiert mit 68 Universitäten und 55 Forschungsinstituten aus 25 Ländern. Dass Helbing, der selbsterklärte Visionär, der wissenschaftliche Leiter des „FuturITC“ ist, ist in seiner Argumentation logisch, weil es am effizientesten ist: So soll nach Helbing die gesamte Gesellschaft organisiert sein. Die Gesellschaft als algorithmisch bestimmte Aufgabenverteilung? Helbing will mit Hilfe der Computer regeln, wer sich innerhalb des Kollektivs wie zu verhalten habe, wer welche Rolle zu erfüllen habe, damit das System effizient, also nachhaltig ist. Helbing ist überzeugt, das sei im Interesse aller.
Wenn Technokratie bedeutet, einen politischen Diskurs durch eine Logik der Effizienz zu ersetzen, dann könnte man Helbings Visionen technokratisch nennen. Sein Modell hat Vorläufer in der „Politischen Kybernetik“, die sich einige Politikwissenschaftler und politische Berater wie Karl W. Deutsch oder Stafford Beer in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausmalten. Deutsch plädierte für eine Ablösung alter, auf Souveränität bezogener Konzeptionen der Macht zugunsten einer Form der Regierung über die „rationelle Koordination von Informations- und Entscheidungsströmen, die im Gesellschaftskörper zirkulieren“. Dazu müssten „Empfangsorgane“ installiert werden, die alle „Informationen jeder lebenden Gemeinschaft“ und ihrer einzelnen Mitglieder erfassen und jene Informationen durch Vergleichung und Verknüpfung verarbeiten könnten. In Helbings Welt würden die Mitglieder der Gesellschaft die Informationen über die Global Participatory Platform selbst freiwillig in die Empfangsorgane, in das Planetary Nervous System, einspeisen. Helbings Vision ist eine Utopie der Welt, in der sich alles in Feedbackkreisläufen selbst zum Besten steuert. Damit impliziert sie, dass Gesellschaft etwas ist, was entweder funktioniert oder eben nicht. Und dass alles Handeln einen Zweck hat. Dass es Mittel gibt, mit denen man Gesellschaft besser, funktionaler, vor allem effizienter gestalten kann. Und dass die effizienteste Welt zugleich die wünschenswerte ist.
In einer solchen Welt ist der Computer die Maschine, die die Menschen und deren Zusammenleben erfassbar, entschlüsselbar und damit berechenbar macht. „In zehn Jahren werden Computer die Leistungfähigkeit menschlicher Gehirne erreichen“, sagt Helbing. Der Mensch selbst ist unter dieser Perspektive nicht mehr als ein Knotenpunkt in einem Netz aus Datenströmen, der sich wie das Ebenbild des Computers programmieren lässt. Aber würde dieses Menschenbild dadurch nicht zweierlei ignorieren: Dass es erstens Interessenskonflikte gibt, die sich aus kapitalistischen Verhältnissen und gesellschaftlichen Hierarchien speisen? Die Banker und Investoren haben die Finanzkrise schließlich nicht nur deshalb verursacht, weil die Anweisungen von Computern fehlten.
Und zweitens, dass der Mensch anders als der Computer träumt, zweifelt, liebt? Rechenmaschinen wissen wenig von dem, was Leben von Überleben unterscheidet. Essen und Schlafen dienen der Regeneration, Sex der Fortpflanzung, das Lesen der Intelligenzsteigerung. Überhaupt dient alles irgendetwas, sonst ist es überflüssig. Denken, hat Adorno geschrieben, ist das Gegenteil von Probleme lösen. Ist es für den Wissenschaftler Helbing nicht genau andersherum? Wären Philosophie, Kunst und Musik in dieser Welt des reibungslosen Ablaufs nicht einfach überflüssig?
„Nein, nein“, wehrt Helbing ab, „das ist doch kein kulturfeindliches Projekt!“ Die Privatsphäre will er schützen, die Verschiedenheit der Leidenschaften und Lebensstile ist ihm wichtig – denn Vielfalt sei schließlich die Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft. „Soziodiversität ist genauso wichtig wie Biodiversität. Monokulturen zerstören das soziale Ökosystem“, sagt Helbing. „Multi-kulti“ sei wichtig, denn Gleichschaltung führe dazu, dass das Ökosystem der Gesellschaft kollabiert.
Eigentlich wollte Helbing mit dem Schlagwort „Privatsphäre“ für einen Bereich plädieren, der jenseits der Kontrolle auf Effizienz liegt. Doch seine Argumentation ist widersprüchlich: Die Grenze zwischen privat und öffentlich ist schließlich nicht gottgegeben, und gerade sein Modell ist allumfassend. Jede individuelle Kaufentscheidung wäre ebenso politisch wie die sexuelle Ausrichtung des Einzelnen. Die sollen zwar unkontrolliert bleiben, aber: Wären in einem solchen System nicht nur jene Arten von Vielfalt, nur jene Abweichungen, die das „Ökosystem“ braucht, willkommen? Und was wäre mit den anderen?
Eine Frage, die kein noch so ausgetüfteltes Computermodell beantworten kann, ist die, wozu es eigentlich eingesetzt werden soll. Es bleibt offen, wo trotz „Bottom-up“, Selbstorganisation und Transparenz neue Machtformen entstehen, die auch tief ins Innere der algorithmischen Modellarchitektur reichen. Wer entscheidet, wie das Modell rechnet? Was es berechnet? Warum sollten wir wissen, wo und wann der nächste „Frühling“ ausbricht? Wem würde ein solches Wissen nutzen? Denen, die gegen Herrschaftsstrukturen kämpfen, oder eher denen, die sie erhalten wollen? „Stabilität“ ist ein starkes Argument in Helbings Logik – ein Argument, mit dem sich heute ebenso gut Politik machen lässt wie mit den Schlagwörtern „Partizipation“ und „Transparenz“. Stabilität ist in die Programmstruktur des Modells gewissermaßen eingebaut. Es ist eine Art Frühwarnsystem, das immer dann Alarm schlägt, wenn sich etwas zu verändern droht.
Der Glaube daran, neue technische Instrumente seien per se emanzipatorisch, sitzt tief, der Hype um die Beteiligungsmöglichkeiten des Web 2.0 hält an, und auch die „angeleitete Selbstorganisation“ der Gesellschaft, die Helbing und seinem Team vorschwebt, ist nur zeitgemäß: Wenn eine Gesellschaft „sich selbst“ organisiert, ist das die beste, weil natürlichste Form des Zusammenlebens – und damit diese Natur effizient ist, muss man ihr technisch auf die Sprünge helfen. Neoliberalismus und Kybernetik verbinden sich, der Mensch wird zur Informationsmaschine und die „rechnerische Planung des Lebens“ auf die Spitze getrieben. Diese hatte Michel Foucault schon im Jahr 1976 als typisch für moderne Regierungsweisen beschrieben. Fast vierzig Jahre später stehen alle Instrumente zur Verfügung. Und so mag die EU sich gerade fragen: Wäre das „FuturICT“ nicht der schlüssigste Schritt zur Optimierung der Gesellschaft?
Mit der Warnung vor Kontrollmechanismen mit freiheitlichem Aussehen braucht man Helbing aber nicht zu kommen, die ist ihm zu unsachlich. Einen Einwand müsste Helbing allerdings gelten lassen, ist er doch nur „logisch“ begründet: „FuturICT“ würde sich wie alle Großsimulationen nicht auf seine Richtigkeit überprüfen lassen – das Modell ist schließlich Teil der Gesellschaft, deren Zukunft es mit jeweils bestimmter Wahrscheinlichkeit voraussagt: Sobald es Ergebnisse liefert, kann die Gesellschaft sich zu ihnen verhalten. Ob das Modell einen nächsten „Frühling“ kommen sieht und damit Menschen motiviert, auf die Straße zu gehen, oder mit der Voraussage das Militär veranlasst, bei Demonstrationen hart durchzugreifen – man wird nie gewusst haben, ob es ohne die Voraussage nicht vielleicht ganz anders hätte kommen können.
Helbing schaut irritiert. Und dann sagt er: „Innovationen haben es am Anfang immer schwer. Es brauchte auch Zeit, bis man Galileo Galilei verstanden hat.“