Prager Frühling
Oktober 2013
Bevor das Internet allgegenwärtig wurde, inspirierte es zum Träumen. Einem Traum vom virtuellen Raum ohne Herrschaftsverhältnisse und Kontrolle, in dem sich alle als Freie und Gleiche begegnen. Dieser Traum ist geplatzt: Das Netz wird verstärkt reglementiert und überwacht, hier von totalitären Regimes oder Geheimdiensten, da durch Konzerne, die willigen Anbieter_innen und User_innen von Web 2.0-Diensten ihre Nutzungsbedingungen diktieren.
Gilles Deleuze hatte schon 1991 geschrieben, dass man jeden Gesellschaftstyp mit einem Maschinentyp in Beziehung setzen könne. Kybernetik und Computer ständen für die Kontrollgesellschaften. Dieser Gesellschaftstyp definiere sich darüber, dass ein Modus der Kontrolle die Gesellschaft als Ganzes erfasst habe: Mikrotechniken tasten die Regungen der alltäglichen Kommunikationsbeziehungen ab, steuern und normieren sie. Die Beschreibung scheint heute treffender denn je. Neben der Etablierung von Kybernetik und Computern haben die postfordistische Transformation der Produktionsverhältnisse und die Ausbreitung einer neoliberalen Rationalität die Ökonomisierung des Sozialen gefördert. Diese bestärkt Individuen, bestimmte Kontrollformen zu internalisieren und sich beispielsweise auf Social Networking Sites wie Facebook permanent freiwillig selbst und wechselseitig zu beobachten.
Die Kontrollgesellschaften organisieren sich somit weniger über eine souveräne Instanz, als vielmehr in beweglichen allumfassenden Netzstrukturen. Das jedoch macht sie empfindlicher auch gegenüber Interventionen.
Das Netz ist nicht nur Medium der Kontrollgesellschaften, sondern gleichermaßen die Maschine ihrer Kämpfe. Die Nutzungsbedingungen der meisten Social Media Angebote sind auf Authentizität und Kohärenz der Angaben der User_innen ausgerichtet, so dass deren Profile für Werbekunden, NSA oder die Polizei lesbar sind. Anonymität oder auch ein steter Wechsel der Angaben stören die Bewegungskontrolle der Subjekte.
So bauen User_innen, die sich den technischen Codes und kulturellen Praktiken nicht unterwerfen und keine digitalen Spuren hinterlassen wollen, ihre eigenen Programme oder beteiligen sich an freien Open Access Projekten, wie Onesocialweb oder Ouishare.net. Diese „eigenen“ Programme bauen zwar auf existierende Codes auf, fordern diese aber oft heraus, modifizieren und erweitern sie, so dass Codes als Regierungstechniken ihre Wirkung im Interesse derjenigen entfalten können, die sie gemeinsam gestalten. Was ist deren Interesse? Die Praktiken und Artikulationsformen jener selbstorganisierten Netzstrukturen verweisen auf das Interesse, sich direkt zu beteiligen – nicht nur durch Diskussionen und Meinungsäußerungen, sondern durch die Gestaltung der Infrastrukturen, die Öffentlichkeit(en) oder vielmehr Gegenöffentlichkeit ermöglichen. Aber lässt es sich noch als subversiv erklären, Infrastrukturen selber zu erschaffen, nachdem der individualistische Geist des Do-it-yourself als neoliberal entlarvt ist?
Ja, denn hierbei handelt es sich um andere Logiken als jene Rationalität, die einzelne als aktive, unternehmerische Subjekte anruft, die selbst verantwortlich für ihr Schicksal und ihr Scheitern sein sollen. Wenn Kollektive, die sich spontan formieren, ohne Mitgliedschaftsbestimmungen aufzustellen, Formen der Kooperation in selbst organisierten dezentralen Netzstrukturen etablieren, geht es gerade nicht um strategische Beziehungen, die einzelnen User_innen „etwas bringen“. Wenn in solchen Formen der Kooperation zum Beispiel anonym kommuniziert wird, ist kein klassischer Tauschhandel möglich, dann gibt es kein System der Zuschreibung. Wenn Social Networking Sites über freie Software laufen und alle, die die Plattform nutzen, an deren Infrastruktur mitbauen (z.B. bei Diaspora), Entscheidungen über die weitere Gestaltung in offenen Diskussionsforen getroffen werden (z.B. bei artsrightsjustice.net), und für jene User_innen, die sich mit Software nicht oder weniger auskennen und sich mangels Fähigkeiten weniger beteiligen können, Tutorials angeboten werden, die wiederum in Kooperation derer erstellt werden, die sich schon besser auskennen (z.B. bei p2pfoundation.net), dann handelt es sich um Online-Praktiken der Kooperation, Inklusion, Transparenz und des Teilens, die sich ganz konkret und nicht nur symbolisch der Verwertungslogik des Kapitals entziehen. Es scheinen Momente der Solidarität auf, die den kontrollgesellschaftlichen Imperativen der Sichtbarkeit und Selbstvermarktung entgehen. Sicherlich: All die genannten Beispiel haben Haken. Die Produktionsbedingungen und die globale Verteilung der Güter, so auch der modernen Kommunikationsmittel, wird auch in der netzwerkartigen Kontrollgesellschaft von Herrschaftsverhältnissen bestimmt, die auf Identitätslogiken basieren und diese fördern. Letztere holt wiederum manche der hier genannten Projekte ein, indem sich zum Beispiel Einzelne profilieren.
Doch nichtsdestotrotz fordern diese Projekte des Gemeinsamen sowohl das Denken in Kategorien als auch die Ordnung der Welt in privat und öffentlich, in private und öffentliche Güter heraus und werfen Fragen nach neuen Formen des Politischen und Sozialen auf – womit der Begriff Social Media überhaupt erst seinen Sinn erhält.