analyse&kritik
August 2020
Ein Tag im Juli: Auf dem Fahrrad mit kurzer Hose durch Berlin. Eine Strecke von 20 Minuten. Einer ruft mir »Fotze« hinterher, ein anderer pfeift mir nach. Durchschnittliche Quote.
Der Bekannte, der seine Lippen zum Abschied plötzlich auf meine drückte und seine Zunge hervorschnellen ließ, ehe ich meinen Kopf wegreißen konnte, schreibt eine SMS: Ob wir nicht mal wieder was trinken gehen wollen. Meine E-Mail mit der Erklärung, warum ich sein Verhalten übergriffig fand, hat er vermutlich schon vergessen.
Die Berliner Senatsverwaltung informiert: Die Zahl der registrierten Sexualstraftaten im öffentlichen Raum und im Nachtleben sei im ersten Halbjahr 2020 um 32 Prozent zurückgegangen — im gleichen Maße nahm dafür die Meldung von Fällen häuslicher Gewalt während des Lockdowns zu.
Drinnen wie draußen herrschen 2020 noch immer patriarchale und damit gewaltvolle Verhältnisse. Auch jenseits von Corona erlebt jede vierte Frau in Deutschland in einer heterosexuellen Beziehung mindestens einmal in ihrem Leben eine Körperverletzung durch ihren Partner, jede zehnte Frau in der EU wurde schon einmal vergewaltigt und jede dritte Frau wird gemäß einer Erhebung von Anfang 2019 am Arbeitsplatz belästigt. Anfang 2019 — nach #metoo.
#metoo hat vor drei Jahren gezeigt, dass denjenigen, die als Frauen oder nicht-binär gelten, noch immer eins gewiss ist: Die Chance darauf, gegen ihren Willen angefasst zu werden.
Im Anschluss stürzten ein paar Patriarchen, doch das Patriarchat ist noch längst nicht zu Fall gebracht. Es sitzt tief, in den Institutionen, in den Geschichten, in uns allen, auch in der linken Szene, in unserem binären Denken, in unseren Affekten (und in unserer Sexualität). Die patriarchale Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft unterteilt die Menschen in zwei Sorten, in Männer und Frauen und letztere werden dabei systematisch abgewertet und ausgebeutet: Die Frau ist Objekt, sie ist verfügbar, sie hat dem Mann zu dienen.
Das Patriarchat ist zwar schon viel älter, doch das spezifische, vermeintlich naturwissenschaftliche Denken von Zweigeschlechtlichkeit, das uns heute noch strukturiert und damit auch die Überwindung der patriarchalen Zustände so schwierig macht, etablierte sich erst ab Ende des 18. Jahrhunderts, während der Zeit der Aufklärung und parallel zur Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise. Dieses binäre Denken von Geschlecht entwarf Mann und Frau als gegensätzlich, aber kongruent: rational-emotional, aktiv-passiv, autonom-abhängig — und immer war klar, welches Attribut das bessere, erstrebenswertere ist, was für den Herrn und was für den Knecht steht. Dieses binäre Modell machte die Idee einer exklusiven, heterosexuellen Zweierbeziehung und der darauf aufbauenden Kleinfamilie gesamtgesellschaftlich zum Ideal und legitimierte die Formen der sexistischen Arbeitsteilung:
Produktion und Reproduktion wurden fortan getrennt, Frauen sollten die Arbeit zuhause gemäß ihrer vermeintlichen Natur unbezahlt verrichten, während Männer sich außer Haus betätigten und ausbeuten ließen — ihre Ehefrauen durften sie kompensatorisch wie ihren Besitz und ihre Bediensteten zugleich behandeln, Frauen hatten zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft weder das Recht zu wählen, noch etwas ihr Eigen zu nennen.
Die (Arbeits-)Verhältnisse wandelten sich zwar im Lauf des letzten Jahrhunderts radikal. Die zweite Frauenbewegung konnte formal gleiche Chancen für Männer und Frauen durchsetzen. Doch der patriarchale Widerstand war groß und so wurde spätestens ab den 1980er Jahren zum allgemeinen Credo, Gleichberechtigung sei nun schon erreicht. Das passte zur neoliberalen Agenda, die den Menschen ebenfalls vermittelte, strukturelle Diskriminierung gäbe es kaum mehr in den liberalen Gesellschaften. Schließlich könne jede Chefin werden. Wer sich noch als Feministin bezeichnete, galt als nervige Emanze.
Die Naturalisierung von vermeintlich männlichen und vermeintlich weiblichen Merkmalen löste sich somit nicht automatisch auf, nur weil Tätigkeitsfelder, die einst denen vorbehalten waren, die als Männer galten, nun auch, zumindest formal, allen anderen offenstanden. Vielmehr war es so, dass sich ein Bild der Frau als Objekt, das dem Mann gefallen und ihm (zuhause) dienen müsse, bestehen blieb und sich damit sogar verstärkte. Selbst im Kindergarten hat diese Logik schon ihren Raum: Pipi Langstrumpf wurde von Prinzessin Lillifee und Elsa Eiskönigin ersetzt, zwei charakterlich flache Figuren mit Riesen-Augen und Wespentaille.
Netflix produziert heute zwar Anti-Macker Serien wie »Sex Education« oder »The End of the Fucking World«, aber auf RTL läuft zur Primetime die Reality-Show »Paradise Hotel« und in diesem Hotel, in dieser großen Wohngemeinschaft sagt ein Typ vor laufender Kamera: »Ein Mann sollte das Alphatier sein, eine Frau sollte auf jeden Fall gehorchen«. Und nachts muss eine Frau sich das Bett mit einem Mann teilen, so das Konzept der Show. Gleich in der ersten Folge, die fast 20 Prozent der deutschen Fernsehzuschauer*innen zwischen 14 und 49 Jahren erreichte, zeigt sich, wie hier sexuelle Übergriffigkeit der Unterhaltung dient: Eine Bewohnerin sagt »Nein«, als ihr der Bett-Partner nahekommt, er fragt »Wieso?« und rückt noch näher, sie sagt wieder »Nein«, wieder und wieder, und er macht weiter. Am nächsten Tag erzählt er den anderen Männern im Haus: »Ich habe versucht, sie zu knacken.« Aber sie sei »nicht fuckable«, nicht fickbar.
Vermutlich kapieren diejenigen, die sich hier als Männer behaupten, gar nicht, wie gewaltvoll ihr Verhalten ist, weil sie verinnerlicht haben, dass es normal sei, Frauen zu bedrängen und zu überwältigen. Weil ihnen etwa von klein auf verschiedene berühmte Filme vermittelt haben, Frauen würden genau das sogar mögen. Würden sich dann sogar in einen verlieben wie Leia in Han Solo aus Star Wars, als der sie anfasst und dann küsst, obwohl sie »stop it« sagt, wie Pussy Galore in James Bond, als der sie in einer Scheune auf den Boden zwingt, wie Catherine Zeita-Jones in Antonio Banderas, nachdem er als Zorro ihre Kleider mit dem Säbel zerfetzt.
Der durchschnittliche Porno treibt die Logik noch weiter: Frauen mögen es nicht nur, überwältigt zu werden, sondern, Sex ist grundsätzlich eine Angelegenheit, in der der Mann sich bei der Frau bedient.
Und diese Objektifizierung der Frau ist omnipräsent: Was soll eine Frau im Bikini auf einer Autowerbung anderes bewirken als einen Hetero-Mann anziehen, ihm Vergnügen beim Schauen bereiten, seinem Begehren dienen? Frauen haben süß und sexy für den Mann zu sein, das ist es, was die Bilder verbreiten. Im Internet, auf den schier endlosen Seiten wie youporn natürlich sowieso.
In der Studie »Boys and Sex« erzählen alle jungen Männern, die dafür in den USA in den letzten Jahren interviewt wurden, dass sie mindestens einen Typen kennen, der Mädchen und Frauen gegenüber bereits sexualisiert übergriffig war.
Vergewaltigungskultur heißt jene Kultur, in der sich Frauen »in einem Kontinuum angedrohter Gewalt« bewegen, »die von sexuellen Bemerkungen über Begrapschen bis hin zur Vergewaltigung selbst reicht«, schrieb die Publizistin Emilie Buchwald schon 1993 in ihrem Buch »Transforming a Rape Culture«.
Ein Journalist griff diese Definition im Tagesspiegel auf: Mannsein bedeute Macht, Macht durch ein Kontinuum angedrohter Gewalt. Egal, ob du selbst Täter seist oder »nur« Profiteur. Macht durch Privilegien.
Diejenigen, die als Männer gelten, haben hier und heute auf Grund der patriarchalen Struktur im Schnitt allen anderen gegenüber, und das sind mehr als die Hälfte der Menschen um sie herum, noch deutlich mehr Freiheiten und mehr Chancen — zumindest diejenigen, die als deutsche, heterosexuelle Cis-Männer gelten. Die Freiheit etwa, nachts allein die Abkürzung durch den Park zu nehmen oder ohne Angst vor versteckten Kameras öffentliche Toiletten zu nutzen; die Chance, Chef zu werden oder in der Politgruppe das Sagen zu haben.
Wer diese Privilegien nicht hinterfragt, wer nicht aktiv gegen sie angeht, macht sich zum Kollaborateur des Patriarchats, eines Ordnungssystems, das eine Vergewaltigungskultur fördert.
Die eigenen Privilegien hinterfragen bedeutet auch, den eigenen Habitus zu reflektieren, darüber nachzudenken, wie laut und wie oft man die Stimme erhebt, wieviel Raum man zu nehmen gewohnt ist, in welchem Ton man spricht, gerade mit denen, die nicht als Männer gelten. Und auch: Die eigene Wahrnehmung, das eigene Empfinden, die Affekte und den Umgang damit herauszufordern. Den Körperpanzer aufzubrechen, nicht nur denen zuliebe, die im Patriarchat systematisch ausgebeutet und abgewertet werden, auch sich selbst zuliebe.
Denn die Vormachtstellung des Mannes ist weiter daran geknüpft, dass er, der Mann auch sich selbst in einen Rahmen presst. Das, was in der bürgerlichen Gesellschaft zur Bedingung wurde, um ein guter Staatsbürger, Oberhaupt der Familie zu sein und sein Eigentum verwalten zu können, gilt auch heute noch als männlich: Herr seiner selbst zu sein, die Dinge unter Kontrolle zu haben, seine Emotionen wie auch die Geschehnisse in der Welt. Die, die als Jungen gelten, lernen im Lauf ihrer Jugend, sich zu beherrschen, Tränen runterzuschlucken, zu kämpfen, zu konkurrieren; sie hören heute wie vor fünfzig Jahren: »Heul’ nicht.« Und: »Du bist doch kein Mädchen.« Das patriarchale binäre Denken legt ihnen immer noch die Abspaltung all dessen nahe, was schwach, was weich ist, was vermeintlich das andere Geschlecht, die Frau ausmacht.
Männlichkeitsforscher wie Rolf Pohl gehen davon aus, dass dadurch für den heterosexuellen Mann ein Dilemma entstehe, das wiederum die misogyne Struktur des Patriarchats erst rechtverfestige : Gemäß dem bürgerlichen Ideal muss er sich kasteien und disziplinieren, um vermeintlich stark und unabhängig zu sein, und erlebt sich aber wegen seiner Begehrensstruktur doch permanent als abhängig und zwar genau von jenen, denen er das zuschreibt, was er in sich selbst unterdrückt und deshalb fürchtet. Was, wenn er nicht bekommt, was ihm vermeintlich zusteht, obwohl er so viel Opfer bringt? Vielleicht wird er Teil der Bewegung derjenigen, die sich »unfreiwillig zölibatär« nennen und Frauen hassen.
Es ist aber nicht so, dass sich die patriarchale Struktur immer nur woanders besonders brutal ausdrücken würde, weit weg in der Manosphere im Internet, wo sich Incels und rechte Antifeministen verbrüdern. Das binäre und hierarchische Denken von Geschlecht wertet alles ab, was »weiblich« konnotiert ist, und erst recht all das, was sich der Ordnung der vermeintlich natürlichen Zweigeschlechtlichkeit entzieht und dieses Denken ist in die Köpfe und die Körper der Menschen eingeschrieben, genau wie in die Struktur des kapitalistischen Nationalstaats. Linkssein sollte bei Cis-Typen mit der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Männlichkeit beginnen.