Frankfurter Allgemeine Quarterly 13
November 2019
Im Facebook-Stream erscheint eine Calvin-Klein-Werbung: Das Model auf dem schwarz-weiß-Foto reckt das Kinn über die schulterlangen, leicht zerzausten, dunkelblonden Haare, seine Lippen sind geschwungen wie die von Brigitte Bardot, der Blick ist von James Dean, die schwarze Jeansjacke öffnet sich über der flachen Brust, Muskeln zeichnen sanft den nackten Bauch. „Ist das ein Junge?“, lautet der erste Kommentar unter dem Bild. Keine Antwort.
In diesem Artikel wird es darum gehen, was das ist: ein Junge, ein Mann, was das heute ist, sein soll, darf, will. Und was aus ihnen werden könnte, den Männern. Und da geht es natürlich auch um Frauen, denn die braucht es, sonst gäbe es keine Männer. Damit ist nicht gemeint, dass Mann und Frau sich brauchen, damit es Nachwuchs, also überhaupt auch neue Männer gibt — die Aufgabe der Fortpflanzung übernehmen wohl ohnehin irgendwann die Labore. Wenn es keine Frauen gäbe, dann gäbe es keine Männer, dann könnte man einfach immer Mensch sagen, wenn man ein Exemplar dieses Lebewesens vor sich hat. Das hat man übrigens andersherum lange genug getan: Man hat Mensch gesagt, wenn es nur um Männer ging. Männer haben Menschenrechte deklariert und zwar erstmal nur für sich selbst.
Mann sein definiert sich vor allem darüber, nicht Frau zu sein. Die Binarität der Geschlechter ist noch immer eine Grundstruktur unserer Gesellschaft. Kaum eine andere Kategorie ordnet unser Denken so sehr wie die des Geschlechts. Andere so genannte Eigenschaften nehmen wir selten so schnell wahr, sie bleiben uns nicht gleichermaßen stark in Erinnerung. Welche Haarfarbe hatte die Person, die Ihnen das Aspirin in der Apotheke verkauft hat? Darauf haben Sie vielleicht nicht geachtet. Aber ob es ein Mann oder eine Frau war, wissen Sie bestimmt noch. Läuft ein Mensch an Ihnen vorbei, so nehmen Sie, ganz unbewusst, sein Geschlecht wahr — und falls Sie die Person nicht einordnen können, fällt Ihnen das auf, wird es Ihnen bewusst. „Ist das ein Junge?“
Vielleicht fragen Sie sich das in den letzten Jahren häufiger, vielleicht kommt es häufiger vor, dass Sie unsicher sind, ob der Mensch auf dem Plakat oder auf dem Gehweg Mann oder Frau ist, ob Sie selbst Mann oder Frau sind oder nichts davon, und was das eigentlich bedeuten soll.
In der Zeitschrift „Monopol“ heißt es im Herbst 2019 auf dem Cover: „Update Mann. Die Revolution des Männerbildes aus dem Geiste der Mode“. In dem Artikel geht es um den Post-Macho-Mann, der in der Mode und der Kunst schon etabliert sei, um einen fragilen, androgynen Jungen, der sich Zuschreibungen von männlich und weiblich immer weiter entziehe.
Und: In dem sich ein Abbild des „verschreckten, gebeutelten Mannes des Jahres 2019 finden lässt, dem eine jahrhundertelang eingeübte Vormachtstellung unter dem zarten Arsch zerbröselt und der sich nun eine neue Identität, ein neues Bild erfindet.“ Aber ist das wirklich der Mann 2019: „verschreckt und gebeutelt“, weil ihm „eine jahrhundertelang eingeübte Vormachtstellung“ genommen wird? Stimmt das? Und will dieser Mann deshalb jetzt eigentlich gar keiner mehr sein?
Wenn es in Zeitungen und auf Podien um Männer geht in den letzten Jahren, geht es immer wieder auch um deren vermeintliche Krise, um einen Machtverlust, der sie verunsichere, darum, dass männliche Tugenden immer weniger zählen würden und dass man diejenigen, die gemäß dieser Tugenden sozialisiert seien, nun benachteilige. Laut einer Befragung von über 8000 Millenials weltweit fühlen sich mehr Männer zwischen 18 und 34 heute im Arbeitsleben wegen ihres Geschlechts diskriminiert als Frauen im gleichen Alter.
Googelt man „Männlichkeit“ tauchen unter den ersten Ergebnissen Männergruppen auf namens „Männlichkeit leben“ oder „Männlichkeit stärken“, die Männer-Workshops organisieren, etwa unter dem Motto „Sei frei! Sei geil! Sei Mann“. Sie finden, der Feminismus, die Frauenbewegung sei übers Ziel hinaus geschossen, verkünden, es brauche eine Männerbewegung, die männliche Tugenden wieder profitabel mache. Das forderte auch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung 2017 der Soziologe Walter Hollstein.
Vielleicht braucht es aber eher einen Blick auf die Fakten, etwa auf die letzte Erhebung zur Geschlechtergerechtigkeit im Auftrag der Bundesregierung 2017: Da verdienten Männer im Schnitt 21 Prozent mehr als Frauen — der Gender Pay Gap war damit sogar noch größer als ein paar Jahre zuvor. Und obwohl sich die Beschäftigungsquote von Frauen seit 1992 von 60 auf 80 Prozent vergrößert hatte, verbrachten Männer 2017 kaum mehr Zeit mit fürsorglichen und haushälterischen Tätigkeiten als Anfang der 90er Jahre. Wie unsinnig die Behauptung ist, Frauen würden nun die Welt beherrschen, wie stabil stattdessen patriarchale Muster sind, belegen weitere Untersuchungen: Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums erlebt jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben sexuelle oder körperliche Gewalt durch einen Beziehungspartner — und zwar in allen sozialen Schichten. Und jede dritte Frau wird am Arbeitsplatz belästigt, wie eine Umfrage des Forschungsinstituts Civey Anfang 2019 zeigte. Nach der metoo-Bewegung. Seit #metoo die Alltäglichkeit sexueller Übergriffe gegen Frauen erstmals öffentlich machte, hat sich vor allem eines geändert, so das bittere Ergebnis einer Studie der Universität Houston: Ein Viertel aller männlichen Chefs stellt lieber keine Frauen mehr ein.
Natürlich gibt es in Deutschland, in Europa kein Patriarchat im juristischen Sinne mehr. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Doch hält sich die Männerherrschaft im Alltag, im Denken der Menschen und in ihrem Handeln.
Es geht in diesem Text um Männer, um die Zukunft des Mannes, in der er vielleicht wirklich einmal gar keiner mehr sein wird, in der er sich den Zuschreibungen entziehen und frei sein, Mensch sein wird, ohne ein eingehegtes Anderes dazu zu brauchen, ohne sich selbst einzuhegen.
Aber da sind wir noch nicht. Jetzt geht es noch um Macht und Herrschaft. Darum, wie umkämpft die alte, die patriarchale Ordnung ist, und wie viel Widerstand sie zugleich leistet.
Netflix produziert heute zwar Serienhits wie „Sex Education“ oder „The End of the Fucking World“, in denen der Post-Macho-Mann aus der Monopol-Geschichte die Hauptrolle spielt, in denen er Held und damit Anti-Held zugleich ist, aber auf RTL läuft zur Primetime die Reality-Show „Paradise Hotel“ und in diesem Hotel, in dieser großen Wohngemeinschaft sagen die Männer: „Ein Mann sollte das Alphatier sein, eine Frau sollte auf jeden Fall gehorchen“. Und nachts muss eine Frau sich das Bett mit einem Mann teilen, so das Konzept der Show. Und gleich in der ersten Folge, die fast 20 Prozent der deutschen Fernsehzuschauer zwischen 14 und 49 Jahren erreichte, zeigt sich, wie hier sexuelle Übergriffigkeit der Unterhaltung dient: Eine Frau sagt „Nein“, als ihr der Bett-Partner nahekommt, er fragt „Wieso?“ und rückt noch näher, sie sagt wieder „Nein“, wieder und wieder, und er macht weiter. Am nächsten Tag erzählt er den anderen Männern im Haus: „Ich habe versucht, sie zu knacken.“ Aber sie sei „nicht fuckable“, nicht fickbar.
So reden Pick-Up-Artists, Männer, die anderen Männern in Seminaren und Workshops, im „Casanova-Coaching“ etwa, live oder über YouTube beibringen, wie sie Frauen abschleppen und ins Bett kriegen, auch wenn diese sich sträuben. Frauen wüssten nicht, was sie wollen, ist die zentrale Behauptung jener Männer-Gruppen, die sich auch im deutschsprachigen Internet ausbreiten.
Das Patriarchat bäumt sich auf wie ein angeschossenes Tier, schreibt die Soziologin Franziska Schutzbach. In der Wahl Trumps, im Erfolg der AfD, im Aufstieg der Rechten allerorts offenbart sich ein Aufbegehren gegen feministische Errungenschaften. Genauso wichtig wie die Schließung der Grenzen scheint der AfD die Abschaffung der Gender Studies zu sein, die die kulturelle Bedingtheit von Männlichkeit und Weiblichkeit erforschen. „Männlichkeit ist kein soziales Konstrukt“ lautete einer der Wahl-Slogans der AfD, und auf dem Plakat war eine Ritterrüstung zu sehen: Der Mann ist stählern, unzerstörbar. Er soll endlich wieder seiner Natur entsprechen dürfen, das fordert Björn Höcke, wenn er ruft: „Wir brauchen mehr Männlichkeit.“ Dazu muss die Frau ebenfalls wieder auf den Platz, den die Natur ihr zuweist: Auf dem Wahl-Plakat wiegte sie ein Baby im Arm.
Männer wählen fast doppelt so oft die AfD wie Frauen. Und das sind nicht nur die Abgehängten. In der Sehnsucht nach einer alten, vermeintlich natürlichen Ordnung verbrüdern sich wohlhabende Chauvinisten aus wirtschaftlich florierenden Regionen Bayerns oder Baden-Württembergs mit arbeits- und orientierungslosen Nazi-Nerds aus Ostdeutschland. Wie sich patriarchale und rassistische Denkweisen in der völkischen Weltsicht verbinden, brachte der AfD-ler Andreas Wild auf den Punkt, als er forderte, dass Einwanderung künftig wieder durch „den Geburtskanal deutscher Frauen“ stattfinde.
Aber nicht nur rechte Männer wünschen sich alte Verhältnisse zurück. Dass der „Gender-Wahn“ ein Ende habe, fordern auch der Papst und Bestseller-Autorin Birgit Kelle. Und auch aus liberalen Kreisen tönt der Ruf, dass es langsam mal reiche mit dem Feminismus. Das finden etwa Zeit-Autoren wie Harald Martenstein, der sich von Feministinnen diskriminiert fühlt, und Jens Jessen, der die #metoo-Bewegung mit dem Gulag verglich. Ob man überhaupt noch Pimmel-Witze machen dürfe, fragte auch Olli Schulz, ein Sänger mit Anti-Macho-Image, in der ZDF-Neo-Sendung, die er mit Jan Böhmermann zum Thema Sexismus moderierte. Der wiederum drückte dann beim Witz auf den Pieper, schnitt ihn raus. So wie es Feministinnen tun, wurde da suggeriert. Diese Zensur-Tanten. Und der beliebte Buchautor Jan Weiler schrieb gerade in einem Stern-Artikel über „Männer in der Krise“: „Binnen-I kommt nicht infrage. Basta.“ Er schrieb tatsächlich „Basta“ — in einem Text, in dem es angeblich um seine Verunsicherung geht.
Dieser konfrontative Ton unterstellt immer schon eine PC-Polizei namens Queerfeminismus, Identitätspolitik oder Postmoderne. Aber wo wurde wem je etwas verboten? Ist überhaupt eine deutschsprachige Zeitung schon auf die Idee gekommen, gender-gerechte Sprache zu drucken?
Die Warnungen vor den vermeintlichen Verboten durch die Feministinnen maskieren die Angst vor Macht- und Bedeutungsverlust. Obwohl der Feminismus doch auch sie befreien will, vielleicht ja von der Last der Macht und auch von der Angst vor deren Verlust.
Dass ihm, dem Mann etwas zusteht, Macht, seine Position, oder etwa auch eine Frau, ist schließlich immer noch eingeschrieben in die Köpfe und die Körper der Menschen. Das vermitteln nicht nur RTL-Sendungen oder AfD-Plakate. In der Erziehung zum Mann heißt es weiterhin, wenn auch oft nicht explizit: Beherrsche Dich, bring das Opfer — es wird sich lohnen. Tränen runterschlucken, hart sein, ein Mann sein, kämpfen, konkurrieren. Jungen hören heute wie vor fünfzig Jahren: „Heul’ nicht.“ Und: „Du bist doch kein Mädchen.“ Das patriarchale binäre Denken legt Männern immer noch die Abspaltung all dessen nahe, was schwach ist, was vermeintlich das andere Geschlecht, die Frau ausmacht.
Dass das für die Männer im Schnitt selbst ein Problem sei, betont einer, von dem man es mit Blick auf seinen Online-Auftritt nicht erwarten würde: John Aigner, hierzulande wohl der prominenteste Adressat von Männern in der Krise. Seine Kurse nennt er „Coaching für Kerle“ und einmal im Jahr organisiert er in Berlin die Konferenz „Mannsein“, bei der hunderte Männer zusammenkommen und sich als Teil einer neuen Männerbewegung verstehen. Das erinnert an den AfD-Ruf nach mehr Männlichkeit. Doch dann zitiert Aigner Simone de Beauvoir und spricht davon, dass Frauen vorangegangen seien auf dem Weg in Richtung einer emanzipierteren Gesellschaft. Sie hätten gar keine Wahl gehabt im Kampf gegen oppressiv patriarchale Strukturen. Jetzt aber müssten sich Männer eben auch mal bewegen, um sich ein neues, gesünderes, emanzipierteres Rollenverständnis zu erarbeiten.
Macho-Begriffe wie „Kerle“ verwende er aus Marketing-Gründen: Viele Männer seien unter diesen Labels eher bereit, sich mit anderen über ihre Gefühle und Gedanken auszutauschen, erzählt er.
Dass Männer immer noch dazu tendieren, die Dinge mit sich selbst auszumachen, steht auch im Männergesundheitsbericht, der zuletzt 2013 erschien: Obwohl sie etwa gleich oft an psychischen Störungen erkranken wie Frauen, beschränkt sich der Männer-Anteil in psychotherapeutischen Praxen seit Jahrzehnten auf rund ein Drittel. Umbringen tun Männer sich dafür drei Mal so oft wie Frauen. Die Geschlechterforschung spricht von „toxischer Männlichkeit“, und meint damit das Gleiche wie Aigner: Dass die Art und Weise, wie Männlichkeit heute noch hegemonial ist, definiert und ausgelebt wird, schädlich sei — nicht nur für Frauen, sondern eben für Männer selbst, für alle.
Diese breite, kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeitsidealen ist noch jung — und hat doch sehr schnell Zuspruch erhalten. 120.000 Mitglieder des Amerikanischen Psychologen-Verbandes APA problematisierten gerade erstmals Tugenden, die als männlich gelten, wie etwa Härte sich selbst gegenüber. Darüber echauffierte sich Josef Joffe in der Zeit, darin kann man aber auch die Voraussetzung zur Befreiung der Männer und damit aller Menschen sehen.
Dass immer mehr Männer etwa Aigners Angebote in Anspruch nehmen, bricht ja genau mit dem Muster, das als toxisch gilt. Auch dass es neuerdings Notrufe speziell für Männer gibt, die nach Angaben der Betreiber Suizide, Feminizide, also Morde an Frauen, und sogar Amokläufe verhindern würden. Die Psychologen, die dort arbeiten, haben die Aufgabe, den Männern zu vermitteln, dass es ok und normal sei, wenn sie sich einsam fühlen und darunter leiden, dass sie Hilfe und Austausch suchen dürfen.
Dass das überhaupt eine Botschaft sein muss, zeigt, wie tief die patriarchalen Muster sitzen. Dazu hat auch die moderne Wissenschaft, die Naturwissenschaft beigetragen, indem sie Geschlecht nicht nur nach Gebärfähigkeit definierte, sondern den Körpern mit und denen ohne Uterus jeweils bestimmte Eigenschaften zuschrieb: Männer- und Frauenhirne würden anders funktionieren, hieß es im Lauf des 20. Jahrhunderts etwa immer wieder. Frauen könnten nicht räumlich denken, Männer ihre Affekte nicht in Sprache fassen. Sie seien zwei Arten von Mensch, der eine eher für die Dinge draußen geeignet, die andere fürs Private.
Nicht zuletzt die Gender Studies haben aber inzwischen zu Genüge nachgezeichnet, inwiefern solche Behauptungen dazu dienten, die alten Machtverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft zu legitimieren: Die Vorstellung von Mann und Frau als unterschiedlichen Wesen, die sich angeblich durch mehr als die körperlichen Merkmale, die Geschlechtsorgane unterscheiden, wurde geradezu dafür erfunden, eine patriarchale Rollenverteilung auch nach der Epoche der Aufklärung aufrecht zu erhalten.
Auch die Naturwissenschaft erkennt diese Verfehlung an. Progressive Mediziner halten mittlerweile nicht einmal mehr an der Idee einer körperlichen Essenz von Männlichkeit als Gegenstück zur Weiblichkeit fest. Ob jemand mit Penis oder Vagina, mit xx- oder xy-Chromosomen geboren wird, definiere nicht, welche Geschlechtsidentität die Person entwickeln wird, sagt etwa Bernd Meyenburg, der langjährige Leiter der Transidentitätssprechstunde an der Universitätsklinik Frankfurt. Medizinisch gesehen gäbe es so viele Geschlechter wie es Menschen gibt. Wieviele man dann auf der Straße sieht, hängt von der Gesellschaft ab. Davon, wieviele Geschlechter wir zu sehen und zu leben lernen.
Dass weder die Natur noch das Gesetz — in Deutschland ist seit letztem Jahr endlich noch eine dritte Option als Geschlechtseintrag im Pass möglich — die Geschlechter-Binarität noch vorgeben, mag für viele wie eine Überforderung wirken. Nicht nur für diejenigen, die als Männer gelten, die zum Teil ihre Privilegien, zum Teil den Schutz-Panzer aufgeben sollen, in den hinein sie ihre Tränen heruntergeschluckt haben. Auch genügend Frauen halten am Alten fest. Mal mehr, mal weniger bewusst. Auch Unternehmen, die von Frauen geführt werden, weisen einen Gender-Paygap auf.
Es ist jetzt aber vor allem an Männern, die Dinge weiter aufzurütteln. Ihre alte Vormachtstellung basierte schließlich auf der Behauptung einer natürlichen Binarität, die sich nicht allein auf Geschlechtsorgane bezog, mit der man vielmehr vermeintlich männliche und weibliche Eigenschaften konstruierte und hierarchisierte. Und als Folge dieser Vormachtstellung haben Männer auch heute und hier im Schnitt allen anderen gegenüber eben noch deutlich mehr Freiheiten und mehr Chancen — zumindest diejenigen, die als deutsche, heterosexuelle Männer gelten. Die Freiheit etwa, nachts allein die Abkürzung durch den Park zu nehmen, die Chance, Chef zu werden.
Und das machen einige Männer schließlich schon, nicht nur bei John Aigner: Sie reflektieren ihre privilegierte Position immer öfter. Dass Feminismus, Queerfeminismus ein Thema für alle ist, glauben nach Umfragen immer mehr junge Männer — bei unter 24-jährigen Männern war der Anteil derer, die sich als Feministen bezeichnen, 2016 doppelt so hoch wie bei Männern über 55 Jahren (13 zu 6 Prozent). Diese jungen Männer besuchen Workshops, treffen sich an Universitäten in Kursen zu „kritischer Männlichkeit“, um ihren Habitus zu hinterfragen, darüber nachzudenken, wie laut und wie oft sie ihre Stimmen im Seminar und im Meeting erheben, wie breitbeinig sie in der U-Bahn oder in der Konferenz sitzen. Begriffe wie Manspreading und Mansplaining stehen für eine neue Auseinandersetzung, die sich in der Reklame der Modefirmen nur spiegelt. Critical Maleness ist in den USA schon länger das Pendant zur Critical Whiteness, zur Beschäftigung mit dem Privileg, nicht von Rassismus betroffen zu sein, und die jungen Menschen inspirieren sich über den Ozean hinweg, über Twitter und Instagram. Sie inspirieren sich, ihre Identitäten zu politisieren, die historische Bedingtheit, die Gewachsenheit der vermeintlich natürlichen Unterschiede zu reflektieren. So können dann etwa Treffen von Männern, auch wenn sie exklusiv denen vorbehalten sind, die sich als solche verstehen, gerade dazu dienen, die begrenzten und begrenzenden Identitäten irgendwann zu unterlaufen.
Die Naturwissenschaft gibt die Binarität nicht mehr vor, das Gesetz auch nicht. Und der Stand der Technik ist soweit, dass wir zur Reproduktion der Menschen auch keine vormals geschlechtsspezifischen Fähigkeiten mehr brauchen. Vermeintlich männliche Tugenden, die am Fließband oder an der Front hilfreich waren, sind überflüssig geworden, und um Babies zu ernähren, bedarf es schon lange keiner Brüste mehr.
Beim Co-Parenting kümmern sich Freundeskreise gemeinsam um die Kinder, egal ob sie deren biologische Eltern, egal, ob sie Frauen oder Männer sind. In polyamoren Beziehungskonstellationen versuchen junge Menschen jene Verquickung von romantischer Liebe und Besitzansprüchen zu überwinden, die erst durch die patriarchale Arbeitsteilung entstehen konnte. Die antipatriarchalen Lebens- und Liebesformen verbreiten sich. Genau wie etwa feministische Pornos, die dazu einladen, gemeinsam Perspektiven zu erweitern, die Körper zu entdecken, die viel individueller und vielfältiger zugleich sind, als es die alten Vorstellungen der beiden etablierten Geschlechter zuließen. Und diese Filme sprechen auch Männer an, sie sind zum Teil von
ihnen produziert.
Der Queerfeminismus will den Menschen befreien, nicht bloß die Frau – gerade weil er, anders als manch frühere Versionen des Feminismus nicht von einer irgendwie besseren weiblichen Natur ausgeht, sondern von gar keiner natürlichen Wesenhaftigkeit von Männern oder Frauen. Das heißt aber nicht, dass alle queer werden müssten, um frei zu sein, dass wir mit unseren gegenwärtigen Geschlechtsidentitäten und Begehrensformen brechen müssten. Nein, wir sollten nur verantwortungsvoll mit unseren jeweiligen Spielräumen umgehen. Jan Weiler schreibt im Text über seine Verunsicherung, dass er eben Frauen in Kleidern möge. Das liest sich, als würde er denken, dass das für Feministinnen ein Problem sei. Er schreibt auch, er habe sich noch nie Gedanken darüber gemacht, dass er damit womöglich althergebrachte Rollenbilder manifestiere. Das wiederum ist vielmehr das Problem. Und das wäre der Anspruch des Feminismus, der Anspruch einer Emanzipationsbewegung: Darüber nachzudenken, inwiefern die eigenen Gewohnheiten und Vorlieben mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen zusammenhängen. Sich selbst ein bisschen herauszufordern. Und das tun die „neuen Männer“.
Anders als in der Monopol-Geschichte geschrieben, entziehen sich viele „neue Männer“ alten Zuschreibungen von männlich und weiblich vielleicht gar nicht so sehr aus der Krise heraus, nicht weil sie verunsichert und gebeutelt sind, sondern weil sie neugierig sind, Lust auf das Neue haben, mit den Geschlechtergrenzen spielen wollen. Und weil sie solidarisch sind, weil sie dafür einstehen wollen, dass alle einmal gleichermaßen frei sein können, egal welches Geschlecht sie haben. Weil sie davon überzeugt sind, dass die Welt dann für alle besser wäre, auch für sie selbst.