Rechte und religiöse Fundamentalist*innen sind entsetzt: Die Gender-Ideologie will die Grundlage unserer Gesellschaft zerstören, die Kleinfamilie! Und sie haben ausnahmsweise recht.

an.schläge
November 2021

„Abolish the family“ heißt es in feministischen Schriften vor allem im englischsprachigen Raum immer häufiger: „Schafft die Familie ab“. Junge Theoretiker*innen greifen die Utopien der zweiten Welle der Frauenbewegung wieder auf, von Autorinnen wie Marge Piercy und Ursula K. Le Guin, die in ihren Science-Fiction-­Romanen anarchistisch-kommunistische Gemeinschaften jenseits der Kleinfamilien entworfen haben. Sophie Lewis ficht mit ihrem Buch „Full Surrogacy Now“, das letztes Jahr im renommierten Verso-Verlag erschien, das Dogma der Abstammung an, das Kleinfamilien zusammenhalte, und setzt ihm „Polymutterschaften“ und „Schwangerschaftskommunismus“ entgegen. Und M. E. O’Briens Werk „To Abolish the Family“ fordert bereits im Titel die Abschaffung der Familie. Das Ziel der radikalen Familienabsage ist dabei vor allem die Kritik an jenen gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich in der Kleinfamilie immer wieder reproduzieren: Die Kleinfamilie institutionalisiert die Verbindung von Kapitalismus und Patriarchat im Nationalstaat.

Erst in der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft etablierte sich jene starre Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit, die Menschen in zwei vermeintlich wesenhaft unterschiedene Gruppen einteilt und eine heterosexuelle Paarbeziehung und Formen der sexistischen Arbeitsteilung als natürlich erscheinen lässt. Seitdem ein jeder Mann sich als Lohnarbeiter verdingen durfte, durfte er auch heiraten, also eine Frau haben. Diese wiederum hatte selbst kaum Rechte, durfte bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht wählen und nichts ihr Eigen nennen, sie war abhängig vom Mann und zur unbezahlten Haushaltsarbeit und Kindererziehung gezwungen (was nicht bedeutete, dass sie nicht auch selbst daneben oft lohnarbeiten musste).

Moderner Bürger. Diese Familienform und die ihr zugrunde liegende heteronormative Struktur einer komplementären Geschlechterbeziehung bestimmte die Grenzziehung zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre sowie zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, die genauso gegensätzlich und komplementär konstruiert wurden wie das Männliche und das Weibliche. So wurde klar, wie erstens ein Staatsbürger – der neue, moderne Bürger – zu sein hat: ein Subjekt mit vermeintlich männlichen Eigenschaften. Und zweitens wie die Sphäre des Öffentlichen beschaffen sein soll: ein Raum, der für ebenjene Subjekte bestimmt war, die fähig sein sollten, sich selbst zu disziplinieren, rational, also profitorientiert zu regieren und über andere zu verfügen.

Heute können zwar auch Frauen „Karriere“ machen, während sie die Kinderaufsicht an Au-Pairs und die Pflege der Alten an andere ausgebeutete Arbeiter*innen delegieren (wovon wieder über achtzig Prozent Frauen sind). Dennoch steht die patriarchal organisierte Kleinfamilie gesamtgesellschaftlich nach wie vor kaum zur Debatte.

Der vermeintlich moderne Staat fördert sie weiterhin mit steuerlichen Vergünstigungen. Gruppen von Menschen, Wohngemeinschaften oder Freund*innenkreise können in Deutschland beispielsweise kein „Ehegattensplitting“ beanspruchen, das bei der Berechnung der Einkommensteuer das Modell der „Zuverdienerin“ fördert. Und Kündigungsschutz gilt für verheiratete Menschen eher als für jene, die auf dem Papier alleinstehend sind – eine Heirat wird fast überall noch als Basis für die patriarchale Kleinfamilie, für die Produktion künftiger „heimischer“ Arbeitskräfte gewertet. Sie ist die Keimzelle des konkurrenzorientierten Nationalstaats und in ihr setzt sich die binär-hierarchische Ordnung der Menschen fort, genau wie die Zweiteilung des Raums.

Privatisiertes Leid. Das Draußen ist bitter und das Drinnen auch. Jede vierte Frau in Deutschland erlebt häusliche Gewalt. Einer Studie der Vereinten Nationen zufolge wurden 2017 weltweit rund 87.000 Frauen getötet – deutlich mehr als die Hälfte von ihrem (Ex-)Partner oder von Familienangehörigen. Und die Mehrheit der Frauen macht immer noch unbezahlt alle Hausarbeit, selbst wenn „der Mann kein Ernährer mehr ist“, wie die Forscherinnen Sarah Speck und Cornelia Koppetsch belegen. Schon 1972 schrieb die feministische Autorin Mariarosa Dalla-Costa in ihrem Buch „Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft“, das Kapital sei „nicht bereit, die Stellung der Hausfrau als Dreh- und Angelpunkt der Kleinfamilie aufzugeben“. Doch Leid in der heterosexuellen, monogamen Kleinfamilie darf kein Thema sein, es ist „privat“, jede*r sucht die Schuld bei sich selbst. So schämt sich die Frau, deren Partner cholerisch ist, sie zum Sex drängt, der nur ihn befriedigt; so schämt sich das Kind, das die Eltern fürchtet, unter der Sprachlosigkeit zwischen den beiden Menschen leidet, die vermeintlich mit ihm verbunden sind. Das strukturelle Problem des Patriarchats wird privatisiert.

Was wäre, wenn alle Kinder in Krippen aufwachsen, von klein auf, fragen Jules Joanne Gleeson und Kate Doyle Griffiths in ihrem Essay „Kinderkommunismus“. Könnten diese Krippen die Basis einer neuen solidarischeren Gesellschaft sein? Auch die Philosophin Bini Adamczak skizziert in „Beziehungsweise Revolution“ ähnliche Ideen. In ihren Visionen könnten etwa große demokratische und anti­autoritäre Institutionen, in denen Kinder aufgezogen würden, Orte der Fürsorge werden, einer Liebe, die Menschen nicht in Identitäten unterscheidet, sie nicht festlegt, sondern in der gemeinsamen Entdeckung ihrer je individuellen, aber auch kollektiven Vermögen fördert.

Umeinander sorgen. Die Schriften spiegeln die Wünsche vieler und offenbaren auch, dass etwas in Bewegung ist – Familienkritik ist nicht nur Theorie: Queerfeminist*innen kämpfen für eine Welt, in der sich die Menschen umeinander sorgen, und dafür entwickeln sie Formen des Zusammenlebens jenseits von Mutter-­Vater-Kind. Schon die 1968er-Bewegung suchte nach neuen kollektiven Wohnformen, die meisten Projekte blieben aber zu individualistisch. So setzte sich die Objektifizierung derjenigen, die darin als Frauen galten, sowie die Abwertung der Reproduktionsarbeit fort, patriaarchale Muster und Strukturen blieben unangetastet.

In queeren Communitys und feministischen Wohnprojekten handeln die Menschen aus, wer wie für wen sorgen kann – jenseits von Verbindungen über Gene und Geld. Dabei geht es sowohl darum, reproduktive Arbeiten als gesellschaftlich zu organisierende Angelegenheiten sichtbar zu machen, um die sexistische Verteilung und Abwertung dieser Tätigkeiten aufzubrechen, als auch darum, Beziehungs- und Erziehungsformen, etwa die Monogamie, die Sexpartner*innen und Kinder zum Eigentum macht, als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung zu verstehen, wie Felicita Reuschling schreibt.

Die Abschaffung der Kleinfamilie zu fordern, heißt also nicht, Menschen wieder neue Modelle als natürlich vorzugeben. Sondern Beziehungsweisen zu vervielfältigen, wider die Grausamkeit des Patriarchats, und die vermeintlich natürliche Binarität, die das Geschlechterverhältnis wie auch die Gesellschaft strukturiert, aufzubrechen.