Die nie endende Arbeit an der eigenen Außenwirkung vereint Influencer*innen mit den jungen Frauen, die ihnen im Internet folgen
OXI. WIRTSCHAFT ANDERS DENKEN
Juni 2022
Was war das für ein Versprechen: Anonym und solidarisch sollten sich die Menschen im Netz begegnen, frei von Hierarchien, jenseits der Macht der Konzerne. Dezentrale Vernetzung und Selbstorganisierung sollten dank des World Wide Web möglich sein, so glaubten die Cyber-Hippies und Medienaktivist*innen in den 90er Jahren.
Drei Jahrzehnte später hat das Internet vor allem eine neue Figur hervorgebracht: Die Influencer*in. Immer mehr junge Menschen möchten Influencer*innen werden. Eine Umfrage von YouGov Deutschland unter den von 1997 bis 2010 Geborenen zeigt: Fast ein Drittel der Generation Z ist es nach eigenen Angaben schon oder arbeitet daran.
Aber was ist das überhaupt? Als Influencer*innen werden seit den 2000er Jahren Multiplikator*innen bezeichnet, die ihre Reichweite in sozialen Netzwerken nutzen, um beispielsweise Produkte oder Lebensstile zu bewerben. So heißt es auf Wikipedia. Vor allem auf Instagram haben Influencer*innen die Optimierung der eigenen Selfies zum Beruf gemacht. Die Inszenierung ihres Alltags, ihrer Wohnungen, ihres Fitness-Programms, der Reisen, die sie machen, der Events, denen sie beiwohnen. Die permanente Selbstdarstellung, die Arbeit am perfekten Bild des eigenen Lebens ist ihre Lohnarbeit. Sie werden bezahlt von Unternehmen, deren Produkte, deren Ästhetik oder „Messages“ sie in ihre Bilder und Videos mit aufnehmen oder subtil einfließen lassen. Platz eins unter den erfolgreichsten Influencer*innen in Deutschland belegt momentan die 33-jährige Modebloggerin Leonie Hanne, die auf ihrem Instagram-Profil 4,2 Millionen Follower*innen an ihrem glamourösen Alltag teilhaben lässt. Ihr Marktwert wird auf 10,9 Millionen Euro geschätzt. Auf dem zweiten Platz folgt die 25-jährige Pamela Reif, die vor allem während der Pandemie zahlreiche Fans mit ihren Online-Workouts gewinnen konnte. Der Fitnessinfluencerin folgen auf Instagram 8,5 Millionen Menschen, ihr Marktwert wird auf 10,4 Millionen Euro geschätzt.
Das Versprechen der Cyber-Hippies war: Die alten Gatekeeper werden verschwinden, alle werden senden können, die Subalterne wird sprechen. Durchgesetzt haben sich Plattformen, mit denen sich zwar alle mitteilen können, aber nach einem ganz bestimmten Raster. Facebook etablierte als erstes soziales Netzwerk die Profil-Bildung, die Profilierung der User*innen und die wechselseitige Bewertungsfunktion. Schnell wurde es normal, sich selbst in einem vorgegebenen Rahmen darzustellen und diese Darstellungen in Posts und Bildern den anderen zur Kommentierung vorzulegen. Das passte zu den Subjektivierungs-Mechanismen der postdisziplinaren Gesellschaften, die nicht darauf basieren, dass ein Souverän die Individuen oder ein Fabrikchef seine Arbeiter*innen überwacht und diszipliniert, sondern darauf, dass die freien Subjekte sich selbst regieren bzw. registrieren und sichtbar machen. Ohne dass es eine Personalabteilung oder die Polizei forderte, begannen die Menschen, auf Facebook personenbezogene Daten als Antworten auf „Was machst Du gerade?“, Fotos, Videos und Links als Spuren zu hinterlassen. Sie begannen, Fotos hochzuladen, um die anderen teilhaben zu lassen an den eigenen Aktivitäten, folgten dem Appell, der sie als permanent aktive Subjekte adressiert, die ihre Aktivität unter Beweis stellen, die sich selbst andauernd beobachten und diese Beobachtung den anderen zur Begutachtung anpreisen. Diesen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Anerkennung treibt das Foto-fixierte Portal Instagram noch weiter. Die eigene Bilder-Spur wird der Community dargeboten, wird zum endlosen Projekt, das es dank der Feedbackschleifen stetig zu evaluieren und zu verbessern gilt.
Es sind nicht allein diese Plattformen, die den Wettbewerb um das beste Leben hervorgebracht haben. Die Soziolog*innen Thomas Lemke, Susanne Krassmann und Ulrich Bröcklig beschrieben 2003 in ihrem Band zur „Ökonomisierung des Sozialen“, inwiefern in postfordistischen Gesellschaften, in denen der Abbau des Wohlfahrtsstaates und die Prekarisierung der Lebensverhältnisse kaum mehr irritieren, das Interesse der Menschen steigt, sich freiwilligen Messungen von Persönlichkeitsstrukturen, Begabungsprofilen und Kompetenzmustern zu unterziehen. Das Leitbild des unternehmerischen Selbst, das dann vor allem Bröcklig beschrieb und das schon Michel Foucault mit der Figur des „homo oeconomicus“ vorweggenommen hatte, befindet sich in einem unabschließbaren Prozess der Selbstoptimierung, „bei dem der Vergleich mit den anderen als Motor und Monitor fungiert“, so Bröckling.
Facebook und Instagram verstärken die Transformationsprozesse, die Ökonomisierung des Sozialen. Vor allem Instagram befeuert die wechselseitige Überwachung der Arbeit am eigenen Bild und an sich selbst, und legt eine peer-to-peer-Beobachtung nahe, die den Geist der Menschen im Neoliberalismus anspricht. Selbstdarstellung im Netz wird zur Selbstvermarktung und Selbstoptimierung nach dem Vorbild kybernetischer Regelkreisläufe. Und so verkörpert heute kaum jemand das unternehmerische Selbst so sehr wie die Influencerin. Dass in diesem neuen, begehrenswerten Beruf das Geschlechterverhältnis ausnahmsweise einmal andersherum ist — neun der zehn erfolgreichsten Influencer*innen in Deutschland sind Frauen —, überrascht nicht. Diejenigen, die als Mädchen aufwachsen, lernen von klein auf ganz besonders, den Blick von außen zu verinnerlichen, sich mit den Augen der anderen zu betrachten, anderen zu gefallen und an ihrem Aussehen zu arbeiten. Der Optimierungszwang trifft diejenigen, die als Frauen sozialisiert werden, besonders.
Und so sind Frauen gegenwärtig nicht nur diejenigen, die mit ihren Inszenierungen auf Instagram mehr Geld verdienen als Männer. Es sind auch vor allem Frauen, die den erfolgreichen Influencer*innen folgen, die in den Bann der Omnipräsenz der Selbstinszenierung und der Schönheit geraten, jener Darstellungen, die zu geronnenen, festen Bildern werden und das eigene Antlitz beim Anblick der Anderen zum Teil des konkurrenzorientierten Marktes machen. Bereitwillig betrachten sie sich mit den Augen einer Jury, machen sich zu Models und gleichzeitig zu deren Agenturen, die ihre Bilder zu bearbeiten haben. Die Medienwissenschaftlerin Maya Götz hat untersucht, wie Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren, vor allem Mädchen Instagram nutzen. Auf den Selfies, die sie hochladen, ist es ihnen besonders wichtig, sich „gut gelaunt“ (90 %), von ihrer besten Seite (87 %) und „möglichst schlank“ (81 %) zu zeigen und dabei gleichzeitig möglichst natürlich auszusehen (88 %). Um dies zu erreichen, nutzen 49 % der Mädchen Filter-Software: 69 % optimieren die Haare, 70 % gestalten die Haut ebenmäßiger und ein Drittel (je 33 %) verändert die Augenfarbe und -größe und macht den Bauch flacher. Dabei zeigen sich signifikante Ähnlichkeiten zu den Personen, denen sie folgen, so Götz in ihrer Studie. Der eigene Auftritt und auch das Aussehen müssen beständig ihren Idealen angepasst, also optimiert werden. So berichtet der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie, immer häufiger brächten Frauen Bilder von Influencer*innen auf Instagram mit, denen sie entsprechen wollen. Und diejenigen, die ihre Gesichter bearbeiten lassen, werden immer jünger. Eine US-amerikanische Studie fand heraus, dass im vergangenen Jahr die Zahl der Botox-Patient*innen, die unter 30 Jahre alt waren, um 72 Prozent anstieg. ‚Wir verschlechtern das Körperbild bei einem von drei Mädchen im Teenager-Alter’, heißt es in den internen Papieren von Instagram/Facebook, die im Herbst 2021 von der Washington Post geleakt wurden. Es ist das Geschäftsmodell der Plattform, die jungen Frauen zu verunsichern, denen sich die Werbung für die tollere Kleidung, das bessere Beauty-Produkt oder die ästhetische Behandlung dann umso effizienter andrehen lässt.
Auch in Deutschland nehmen Faltenunterspritzungen und Botoxbehandlungen seit 2017 vor allem dadurch jährlich um etwa 15 Prozent zu, dass die Altersspanne der Kundinnen größer wird — laut der DGÄPC seien die meisten mittlerweile aus der Generation „Selfie“, Frauen, die nach 1995 geboren wurden, die also noch kaum Falten haben. Um „sexy“ zu sein, geben acht- bis zwölfjährige Amerikanerinnen im Jahr mehr als 480 Millionen Dollar für Schönheitsprodukte aus.
Die britische Autorin Angela McRobbie befand bereits 2009, das Patriarchat habe sich in den Bereichen Mode und Beauty reterritorialisiert, habe also in diesen Bereichen auf neue Weise Fuß gefasst. Nach der zweiten Welle der Frauenbewegung war die Weiterentwicklung des Feminismus vor allem in Form der Gender Studies in die akademischen Räume abgewandert. Im neoliberalen Postfeminismus hielt man die Gleichberechtigung der Geschlechter fortan aufgrund formal gleicher Rechte für verwirklicht und ignorierte so, dass das Bild der Frau als Objekt, das dem Mann gefallen müsse, bestehen blieb und damit sogar noch stärker wurde. Diejenigen Frauen, die aufsteigen wollten, hatten folglich „ihre Weiblichkeit“ besonders zu beweisen, wie Angela McRobbie in ihrem Buch „Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes“ analysierte, um nicht als Lesbe oder Mannsweib abgestempelt zu werden, je mächtiger (also „männlicher“) sie wurden. (Jungen) Frauen wurde ab den 80er Jahren zwar ein besserer Zugang zu bestimmten Freiheiten und Möglichkeiten eingeräumt (wie sexuelle Autonomie und berufliche Chancen) als zuvor, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie sich vom Feminismus als einer kollektiven politischen Bewegung für radikale gesellschaftliche Veränderung distanzierten.
So kam es schließlich, dass sich Anfang der Nullerjahre kaum noch jemand Feminist*in nannte und dass diejenigen, die dann doch als Teil der sogenannten dritten Welle versuchten, Feminismus wieder cool zu machen, permanent betonten, wie sehr sich ihr Popfeminismus von dem der früheren Frauenbewegung unterscheide: Bei den Feministinnen „alten Typs“ handle es sich um „ungeschminkte Birkenstockträgerinnen“, die der weiblichen Freiheit auf „knappes Outfit“, „High Heels“ und „Brustvergrößerung“ im Wege ständen.
Und so ließe sich heute auf den ersten Blick manch Account, der sich feministisch nennt und dann aufwendig manikürte Gel-Nägel und glitzernde Klitoris-Ketten präsentiert, als Ausdruck jenes neoliberalen Popfeminismus fassen, den Constanze Stutz so treffend als „selbstbestimmten Kopfsprung ins Getriebe kapitalistischer Verwertung“ bezeichnet.
Wenn man sich aber 2022 durch Bilder von Instagram-Accounts klickt, denen Feminismus zunächst nur ein Label zur Selbstermächtigung scheint, gelangt man nicht nur zu lackierten Fingernägeln. Man gelangt auch zu Kacheln, die zur nächsten Demonstration aufrufen und zum Kampf gegen die Zurichtung im kapitalistischen Patriarchat, die nebenbei in drei Sätzen prägnant erklärt wird. Hier zeigt sich, was ebenso jenseits des Netzes gilt: Dass sich mittlerweile wieder eine feministische Bewegung entwickelt hat, die radikale Kritik übt und Kollektivität stiftet, die jene neoliberal durchgesetzte, post-feministische Gesellschaftsordnung, nach der vor allem Frauen zugleich an ihrer Souveränität wie auch an ihrer Sexiness zu arbeiten haben, zunehmend herausfordert. Und zwar auch auf Instagram.
Das unternehmerische Selbst ist nicht mehr unbedingt Leitbild. Der unternehmerische, strategische Umgang mit den Plattformen dagegen ist für viele zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Accounts der jüngeren feministischen Aktivist*innen und Gruppen diskutieren nicht den „thigh gap“ (den Abstand zwischen den Oberschenkeln), sondern den „pay gap“ und die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Die jungen Feminist*innen wollen nicht ihre Selbstdarstellung optimieren, sondern die gemeinsame Organisierung. Der Übergang zwischen Influencer*in und Aktivist*in ist dann fließend.