Nach Protesten gegen den fundamentalistischen Marsch für das Leben sind Aktivist*innen juristischen Repressalien ausgesetzt. Das soll einschüchtern, aber die Solidarität wächst.
Missy Magazine
Sommer 2021
Sie nennen sich Lebensschützer*innen, vergleichen Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust und gehen jährlich in Berlin gegen das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Uterus auf die Straße (gegen ein Recht, das es in diesem Rechtsstaat sowieso nicht gibt, denn die Bundesregierung hält mit den Paragraphen 218 und 219a StGB weiterhin an Gesetzen aus der Nazi-Zeit fest, die Abtreibung kriminalisieren). Beim „Marsch für das Leben“ treten neurechte PolitikerInnen und AutorInnen wie Beatrix von Storch oder Birgit Kelle auf, christliche FundamentalistInnen an der Seite von RassistInnen, die finden: Diejenigen, die als Frauen gelten, sollen gefälligst „neue Deutsche“ (AfD) zeugen und aufziehen. Die Märsche sind Schauplätze antifeministischer Mobilisierung.
Und jedes Jahr rufen Feminist*innen zum Gegenprotest auf. Aktivist*innen, die gegen staatlich-patriarchale Zugriffe auf Körper und für die Legalisierung von Abtreibungen kämpfen. Dazu, sich dem „Marsch für das Leben“ entgegen zu stellen. So taten sie es auch 2019. Doch anders als in den Jahren zuvor müssen sie sich dafür nun vor Gericht verantworten — als wäre Feminismus ein Verbrechen.
Am Mittag des 21. September 2019 zogen rund 5.500 Abtreibungsgegner*innen durch das Berliner Regierungsviertel, auch Mitglieder der AfD. Mit ihrem „Marsch für das Leben“ forderten sie erneut das vollständige Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Als der Zug sich dem Spreeufer in der Nähe des Reichstags näherte, erklangen plötzlich Rufgesänge aus seiner Mitte: „My body, my choice! Raise your voice!“ Um die 100 feministischen Aktivist*innen hatten sich unter die Demo gemischt und setzten sich nun nebeneinander auf die Straße, wo sie friedlich singend ungefähr eine Stunde verharrten. Die Teilnehmer*innen des „Marschs für das Leben“ hielten an und warteten.
Videoaufnahmen zeigen, dass sie nicht versuchten, am Rand an den Sitzenden vorbei zu laufen oder über sie hinwegzusteigen. Sie wählten auch nicht eine der daneben liegenden Querstraßen zurück zur offiziellen Route. Und die Beamten, die die Demo sichern sollten, entschieden ebenfalls nicht, die Route umzuleiten. Sie forderten die Auflösung der Sitzblockade.
„Drei Mal sagte die Polizei durch, dass wir aufstehen sollen. Als sie drohte, uns mit Zwang wegzutragen, erhoben sich die meisten der Sitzenden, wurden an die Häuserwand gebracht und dort festgehalten“, erinnert sich Anna Feiting (Name geändert), eine der Beteiligten. Gemeinsam mit den anderen Aktivist*innen nahm die Polizei sie in Gewahrsam, nahm ihre Personalien auf und entließ die letzten der teils noch minderjährigen Feminist*innen erst gegen Mitternacht aus der Wache. Ein paar Wochen später erreichten sie die Strafbefehle: Allen 116 Aktivist*innen, die am Boden saßen, wird jeweils einzeln Nötigung vorgeworfen, ihnen wird also vorgeworfen, Gewalt angewendet zu haben, die andere zu einer Handlung bzw. Unterlassung zwang.
Lilli Kramer, Sprecherin des Bündnisses „What the fuck“, das die jährlichen Proteste gegen die Abtreibungsgegner*innen organisiert, sieht in diesen Vorwürfen eine massive Kriminalisierung feministischen Protests. „Es scheint, als würde es darum gehen, uns einzuschüchtern und uns einen Denkzettel zu verpassen.“
Tatsächlich gibt es einige Hinweise darauf, dass der Prozess politisch motiviert ist. Juristisch ist das Geschehen vom 21.09.2019 jedenfalls alles andere als eindeutig zu bewerten. Das bestätigt sich seit Beginn der Verhandlungen, die seit November 2020 stattfinden: Während bereits drei Aktivist*innen verurteilt wurden — eine davon, Anna Feiting, zu 1.600 Euro plus Anwalts- und Gerichtskosten — und von Einigen demütige Entschuldigungen und Gesten der Reue erwartet wurden, boten in den meisten anderen Verfahren die Richter*innen den Angeklagten an, die Vorwürfe gegen Spenden von jeweils hundertfünfzig Euro fallen zu lassen. Zuletzt stellte ein Richter ein Verfahren gegen eine der Aktivist*innen sogar ganz ohne Zahlungsforderung ein. Lisa Jani, Richterin am Amtsgericht und Sprecherin der Berliner Strafgerichte, erklärte das folgendermaßen: „Das Gericht konnte […] nach der bisherigen Beweisaufnahme nicht sicher feststellen, dass die Straße durch die Sitzblockade bereits zu einem Ausmaß versperrt war, dass nach den Kriterien der Rechtsprechung schon von einer Nötigung auszugehen wäre.“
Auch in diesem Fall aber sprach der Richter die Angeklagte nicht frei. Vielleicht soll es keinen Freispruch geben in diesem Prozess. In einem Prozess, den unter anderen Oberstaatsanwalt Matthias Fenner mit auf den Weg brachte, der für seine ideologische Nähe zur AfD berüchtigt ist.
Gegenüber der taz dementierte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft zwar, dass Fenner „an diesem Verfahrenskomplex“ beteiligt sei. Die Verhandlungen und Strafakten zeugen aber von seiner Involviertheit: In der Hauptverhandlung einer Angeklagten sagte etwa ein Kriminalkommissar, es habe ein Treffen mit ihm, einem weiteren Kriminalkommissar, einer Staatsanwältin sowie Fenner gegeben. Und in der Akte einer anderen Angeklagten heißt es im Schlussbericht der Kriminalpolizei: „Auf Weisung der Staatsanwaltschaft Berlin, OStA F., wurden für jeden der […] Beschuldigten aus dem Verfahren […] inhaltlich identische Einzelverfahren gefertigt.“
Die Entscheidung, alle Beschuldigten einzeln vorzuladen statt etwa Gruppenverfahren anzustreben, geht also auf Fenner zurück. Eine Entscheidung, die vielleicht damit zu tun hat, dass Einzelverfahren die Aktivist*innen potentiell vereinzeln, die Angeklagten also noch mehr zermürben?
Zu dieser Entscheidung passt noch ein anderer Beschluss, der ebenfalls vereinzelnd wirkt und den psychischen, finanziellen und organisatorischen Aufwand für alle Betroffenen erhöht: Kurz nach Aufnahme der Verfahren im Herbst 2020 teilte eine Richterin mit, dass Mehrfachvertretungen nun nicht mehr möglich seien, dass also fortan alle Angeklagten sich jeweils unterschiedliche Anwält*innen besorgen müssten. Damit griff sie auf die juristische Möglichkeit des Verbots der Mehrfachverteidigung zurück, die zur Vorbereitung des großen RAF-Prozess in Stammheim geschaffen wurde, aber seitdem selten wirklich umgesetzt wird. „So strikt habe ich das bislang nicht erlebt“, sagt Christine Lüth, eine der Anwältinnen, die folglich nur noch ein Mandat in diesem Prozess übernehmen durfte. Der ganze Prozess scheine ihr, „wie ein Statement für zukünftige Blockade-Verfahren.“ Ein Statement, das wohl auch zur Abschreckung feministischer Aktivist*innen dienen soll.
Doch jene lassen sich weder vereinzeln noch einschüchtern. Mit Hilfe des Bündnis’ „What the fuck“ haben die Beschuldigten interne Verteiler zum Austausch angelegt und auch im Umfeld ist die Solidarität enorm. Das queerfeministische Netzwerk brachte finanzielle Unterstützung zur Bewältigung der Prozesskosten und der Spenden auf, und bei jeder der Verhandlungen sammeln sich etliche Aktivist*innen vor Gericht, um zu zeigen: Getroffen hat es einzelne, gemeint sind sie, sind wir alle.
Um der Kriminalisierung von Sitzblockaden entgegenzutreten hat „What the fuck“ außerdem gemeinsam mit dem Berliner Bündnis gegen Rechts eine Petition gestartet, die u.a. Esther Bejarano, das Komitee für Grundrechte und Demokratie und das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung mitzeichneten. Sie alle sind der Meinung: Sitzblockaden sind ein legitimer Gegenprotest.
Mit dieser Haltung geht auch Feiting in ihr Berufungsverfahren: Sie will den Freispruch. „Bei einer Einstellung ist die Schuldfrage nach wie vor ungeklärt“, sagt die 35-Jährige. „Ich will, dass anerkannt wird, dass wir friedlich, also ohne Gewalt unser Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrgenommen haben.“ Es sei nicht hinnehmbar, wegen einer Versammlung gegen sexistische und rassistische Positionen vor Gericht verurteilt werde. Sie sieht den Schritt, in Berufung zu gehen, als stellvertretende Aktion, wie sie betont, und weiß um den Support des feministischen Umfelds. „Feministischer Protest ist, ganz besonders in Zeiten wie diesen, kein Verbrechen, sondern eine absolute Notwendigkeit“, sagt sie.
In Zeiten, in denen Angriffe von Rechts zunehmen, in denen konservative, völkische Positionen erstarken und bis in die Mitte der Gesellschaft hinein anschlussfähig sind — Birgit Kelle etwa schreibt Bestseller und bekommt den Raum, in Magazinen wie dem Focus ihre sexistische, rassistische Klage anzuschlagen, dass in Deutschland „jene Kinder, die jedes Jahr das Licht der Welt nicht erblicken, (…) in der Geburtenrate des Landes“ fehlen.
In Feitings Statement vor Gericht hieß es als Antwort auf derartige antifeministische Mobilisierung: „Solange die medizinische Versorgung und der Zugang zu Abtreibungen nicht für alle sichergestellt sind; solange Ärzt*innen bedroht, angezeigt und diffamiert werden; solange christliche FundamentalistInnen ihr menschenfeindliches und antifeministisches Weltbild auf die Straße und anderswohin tragen; solange wir in einer Gesellschaft leben, in der unter dem Deckmantel der Demokratie geschützt wird, was so viele Menschen gefährdet und verletzt; solange wir noch immer damit beschäftigt sein müssen, für alle das uneingeschränkte Recht zu erkämpfen, selbst über Leben und Körper zu entscheiden; solange gehen wir auf die Straße und lassen uns nicht zum Schweigen bringen.“