Immer mehr junge Menschen identifizieren sich nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde. Vor allem immer mehr derer, die als Mädchen galten. Wie kommt das?

Frankfurter Allgemeine Quarterly 10
März 2019

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, nimmt zu. Immer mehr Menschen definieren sich demnach als transgender, als transident, wie Bernd Meyenburg sagt. Von 1989 bis 2014 hat er die Transidentitätssprechstunde der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Frankfurt geleitet und dabei von Jahr zu Jahr mehr Menschen betreut. Jetzt reist er für Fachkongresse um die Welt — und tauscht sich mit anderen Experten aus, die den selben Trend beobachten.

In den USA etwa gaben im Juni 2016 nach den Zahlen des Williams Institutes an der UCLA School of Law 1.4 Million Menschen an, transgender zu sein, beinahe doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor. Und auch die Zahl derer, die medizinische Dienste in Anspruch nehmen und etwa eine Hormontherapie beginnen, nimmt zu. In England verzeichnete eine der wichtigsten Kliniken für transidente Kinder und Jugendliche einen Anstieg von 300 Prozent in den letzten drei Jahren.

Für diese Entwicklung finden die Wissenschaftler genug Gründe: Erstens werden die Gesellschaften, in denen sich der Trend beobachten lässt, offener und achtsamer gegenüber Trans-Menschen, geben ihnen mehr Raum, mehr Sichtbarkeit. Das lässt sich schon mit einem Blick in die Presse und ins Fernsehen nachvollziehen: 2015 brachte Vanity Fair die erste Transfrau auf das Cover, auf dem Titel des Time Magazines prangte kurz zuvor Laverne Cox, Schauspielerin aus „Orange is the New Black“, die Headline hieß „the transgender tipping point“, in Australien outeten sich zeitgleich Politiker als transsexuell und in Deutschland machten 2017 das erste Mal zwei Kandidatinnen bei Germanys Next Topmodel mit, die bei der Geburt als Jungen eingeordnet worden waren. Zweitens können Kinder und Jugendliche, die unter der Geschlechter-Zuschreibung durch ihren Pass und die Eltern leiden, sich heute – anders als noch vor ein paar Jahrzehnten – im Internet finden, Erfahrungen und Informationen über verschiedene Möglichkeiten austauschen, über spezialisierte Kliniken etwa. Drittens passt sich schließlich auch die Politik den Bedürfnissen an: In vielen Ländern wurde das Prozedere, die Geschlechtsangabe im Pass zu verändern oder zu streichen, in den letzten Jahren vereinfacht. In Argentinien, Malta, Irland, Dänemark oder Chile reicht dafür ein schlichter Verwaltungsakt.

In Deutschland zwingt die Bundesregierung zwar immer noch alle, die ihren staatlichen Geschlechtseintrag ändern wollen, zu medizinisch-psychiatrischen Untersuchungen, doch das kritisieren gerade diejenigen zunehmend, die jahrzehntelang als Gutachter arbeiteten. Meyenburg und seine Kollegen sehen in den Untersuchungen mittlerweile nichts weiter als eine extreme Belastung für die Betroffenen. Ihre Erfahrung und die Empirie zeigen ihnen, dass die Menschen selbst am besten wissen, welches Geschlecht sie haben und dass sie dafür keine Begutachtung durch vermeintliche Experten brauchen. Jeder Mensch hat gemäß ihrer Studien eine individuelle Geschlechtsausprägung. Die begründet sich aber, anders als in der Biologie lange angenommen, nicht durch die Chromosomen, also auch nicht durch die vermeintlich primären Geschlechtsmerkmale. Sie ist viel komplexer und von vielen verschiedenen Faktoren geprägt, von der hormonellen Gesamtsituation eines Körpers etwa.

Weltweit sind sich Mediziner, die mit transidenten Kindern und Jugendlichen gearbeitet haben, also einig, dass die Zunahme von Menschen, die sich als trans identifizieren, eine Befreiung darstellt: Dass Menschen immer mehr das sein können, was sie selbst auf Basis ihrer Körper als richtig empfinden.

Es gibt aber noch einen zweiten Trend, der die Wissenschaft beschäftigt: Es treten in den letzten Jahren nicht gleichermaßen mehr trans-Frauen und trans-Männer in Erscheinung — besonders stark nimmt die Zahl jener jungen Menschen nimmt zu, die bei der Geburt als Mädchen kategorisiert werden, sich aber als männlich empfinden und das als Teenager artikulieren. In Großbritannien etwa, wo die Einrichtung „Gender Identity Development Service“ die Zahlen dokumentiert, waren noch vor zehn Jahren nur 41 Prozent der jungen Menschen, die sich als trans an eine Klinik wandten, auf dem Papier als weiblich definiert, 2017 waren es schon 69 Prozent.

Die Frage, warum das so ist, wird in Fachkreisen kontrovers diskutiert — vor allem seit Lisa Littman, Ärztin und Verhaltensforscherin an der Brown University, im August die vermeintlich erste wissenschaftliche Erklärung dafür vorlegte. In einer Studie beschrieb sie das Phänomen der „plötzlichen Gender-Dysphorie“, die vor allem bei weiblichen Teenagern auftrete und sich durch „social contagion“ verbreite, also dadurch, dass Teenager, die sich als transgender identifizieren, andere Teenager damit „anstecken“ würden. Womit sie letztlich behauptete: Trans werde zur Mode und zum Gruppenzwang, gerade unter Mädchen. Diese These ist nicht nur extrem transfeindlich, schließlich legt sie die Stigmatisierung und Isolierung von transgender Jugendlichen nahe, sie widerspricht auch den Gründen, die die Wissenschaft für die generelle Zunahme von Menschen mit transgender-Identifikation anführt. Vor allem jener Annahme, dass sich immer mehr Menschen als trans artikulieren, weil sie ihr eigentliches Geschlecht immer freier zum Ausdruck bringen können.

Littmans Studie spricht den jungen Menschen die Veranlagung zu ihrer artikulierten Geschlechtsausprägung ab und sieht die Zunahme allein sozial begründet. Solcherlei Behauptungen müssen fundiert sein — die Methoden der Forscherin erwiesen sich beim genaueren Hinsehen aber als zweifelhaft: Littmans Ergebnissen lag ein Fragebogen zugrunde, den 256 Mütter und Väter von transgender Jugendlichen ausgefüllt hatten, die sie über Webseiten gefunden hatte, auf denen sich besorgte Eltern austauschen. Littman hatte nicht mit einem einzigen Teeanger selbst gesprochen. Die Kritik an ihren Methoden erreichte schließlich auch die Herausgeber der Fachzeitschrift, in der die Ergebnisse veröffentlicht waren, die eine Überprüfung ankündigten, und die Universitätsleitung, die sich von der Studie distanzierte.

Diese hatte sich aber schon verbreitet: Auf genau den Webseiten der besorgten Eltern etwa, auf denen Littman ihre Interviewpartner gefunden hatte, und unter rechtspopulistischen, transfeindlichen Kräften im Netz. Aber auch der „Economist“ bezog Littmans These in einen Artikel ein, der fragt, warum immer mehr Teenager, die als Mädchen gelten, sich als transgender identifizieren. Der Artikel findet selbst ein Beispiel, das Ähnliches nahelegt wie Littmans Studie: Trans-Teenager erstmal nicht zu ernst zu nehmen. Das Beispiel, das dem „Economist“ zu dieser Schlussfolgerung verhilft, ist die Geschichte einer feministischen Mutter, deren Tochter sich als Teenager erst als transgender artikuliert und dann Jahre später sagt, sie sei froh, dass ihre Mutter sie davon abgebracht habe. Sie habe als Teenager ihre Homosexualität nicht anerkennen können und sich deshalb als trans ausgegeben.

Es ist verwunderlich, dass in diesem Kontext nicht ein einziges Mal die extrem hohe Zahl von Übergriffen auf Trans-Personen erwähnt wird, dass der massive Hass, die Ausgrenzung und Diskriminierung, denen sie auch in vermeintlich freien Ländern ausgesetzt sind, kein Thema ist — in Deutschland wurden in den letzten zehn Jahren knapp 3000 Trans-Menschen ermordet, die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Es ist also erstaunlich, dass der Artikel im Einklang mit der fragwürdigen Studie vermittelt, Menschen würden sich einer spontanen Laune nach oder um anderes zu kompensieren als trans artikulieren.

Die Frage, worin sich der zweite Trend, also die Tatsache, dass vor allem als Mädchen kategorisierte Teenager sich als transgender artikulieren, muss natürlich die gesellschaftlichen Bedingungen miteinbeziehen — ohne jedoch derart transfeindlich zu werden.

Ließe man diese Bedingungen bei der Begründung von Geschlecht außer Acht, würde man also die individuelle Geschlechtsausprägung eines jeden Menschen allein auf eine körperliche Veranlagung beziehen wollen, dann würde die Zunahme von Trans-Teenagern, die bis dato als Mädchen klassifiziert waren, bedeuten, dass immer mehr Menschen eigentlich Männer sind. Dass die Natur immer mehr Menschen zu Männern macht.

In solcher Natur-Kultur-Dichotomie denken aber selbst die meisten Naturwissenschaftler nicht mehr. Meyenburg etwa will zwar als Mediziner den Glauben an eine biologische Basis für die die individuelle Geschlechtsausprägung von Menschen nicht aufgeben, nimmt aber an, dass diese Basis beweglich bleibt und auch von der Umwelt, von der Sozialisation eines jeden Menschen fortwährend mit beeinflusst wird. Gerade die Aufteilung der Menschen in Mann und Frau, jene binäre Ordnung, die unsere Gesellschaft immer noch strukturiert, würde die Menschen eben von Geburt an prägen. Wenn es die nicht gäbe, kämen vielleicht noch viel mehr verschiedene Geschlechtskategorien zum Ausdruck als die beiden etablierten, so Meyenburg, der hier nichts anderes sagt als die meisten Gender Studies schon lange vertreten.

Die Gründe für den zweiten Trend kennt auch Meyenburg nicht. Die soziale Dimension von Geschlecht zu berücksichtigen, legt in seinen Augen nahe, zu fragen, ob es aktuell für Teenager, die als Mädchen kategorisiert sind, leichter ist, sich als transgender zu artikulieren. Und auch, ob es in der gesellschaftlichen Ordnung, die nicht nur binär, sondern auch patriarchal ist, vielleicht plausibler ist, zum Mann zu werden als zur Frau. Solche Fragen ließen sich aber ganz sachlich und respektvoll stellen und sprächen den Teenagern in keiner Weise ab, dass sie wirklich trans sind. Die Teenager, die sich gerade vermehrt artikulieren, seien eventuell nur die Vorhut und ein Zeichen dafür, dass noch viel mehr Menschen sich nicht mit dem einen von zwei Geschlechtern identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, so Meyenburg.

In der englischen Stadt Brighton, die als progressiv und queer gilt, hat die Dorothy Stringer Highschool vor Kurzem ihre 1600 Schülerinnen und Schüler zwischen elf und 16 anonym befragt, unter anderem nach ihrer Geschlechtsausprägung: 40 identifizieren sich demnach nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, 36 geben an, genderfluid zu sein, sich also nicht auf Dauer auf ein Geschlecht festlegen zu wollen. Die Veröffentlichung dieser Zahlen sorgte für Wirbel und Spekulationen. Empörte Eltern erzählten, dass sie von Lehrern kritisiert würden, wenn sie ihren Söhnen keine Röcke erlauben würden. Auf Seiten von trans-Aktivisten wurde die Schule gefeiert. Richard Bradford, der Schulleiter sagte dazu: „Unser Anliegen ist, für die Schülerinnen und Schüler eine Umgebung zu schaffen, die ihnen erlaubt, alle ihre Fähigkeiten bestmöglich zu entfalten und glückliche Leben zu führen.“ So sieht es letztlich auch Meyenburg und der Rest seiner Disziplin: Das Ziel ist, dass es den Menschen gut geht.