Frankfurter Allgemeine Quarterly 10
März 2019
„Atme“, sagt Eva Bakardjiev. „Tiefer, noch tiefer.“ Parallel massiert sie der Person auf der Liege in ihrer Praxis in Berlin den Nacken, streicht über ihre Stirn, tippt auf ihr Brustbein, knetet ihren Oberschenkel oder drückt gegen ihren Fußballen. Und leitet die Liegende an, bestimmte Muskelgruppen anzuspannen und zu entspannen, die Berührungen zu spüren, das Gefühl, das sie auslösen, zu beschreiben. Manchmal fordert sie den Besuch in der Praxis auch auf, durch den Raum zu laufen, zu springen oder zu tanzen.
Eva Bakardjiev nennt sich „Somatic Coach“ — und das, was sie macht, tut scheinbar vielen Menschen gut. Seit Kurzem gibt es immer mehr Angebote unter dem Namen „Somatic Coaching“, in den USA schon seit ein paar Jahren, jetzt auch in Deutschland. Was ist das aber denn?
Somatisch bedeutet: Den Körper als Ganzheit betreffend. Die Kombination mit dem Coaching hat Richard Strozzi-Heckler 2014 mit seinem Buch „The Art of Somatic Coaching“ etabliert, in dem er die Lehren seiner langjährigen Erfahrung als Coach von Managern und Führungskräften aus dem Silicon Valley beschreibt: Erst wenn wir Menschen unser gesamtes Nervensystem berücksichtigen würden, könnten wir uns wirklich selbst verstehen und dann auch so verändern, dass wir für uns und unsere Umwelt bessere Entscheidungen treffen. Konkret geht es um folgende Annahme: Alles war wir tun, sind und fühlen hat einen körperlichen Ausdruck — wie wir auf andere Menschen reagieren, wie wir selbstbewusst, zufrieden, ängstlich, gestresst oder traurig sind, wie wir unsere Meinung äußern, wie wir unsere Ziele verfolgen, wie wir mit Kritik, Niederlagen und Verlust umgehen. Unsere Reaktionen verlaufen nach Mustern, die wir unbewusst erlernt haben, die in unseren Körpern gespeichert sind, uns aber nicht immer gut tun. So presst eine Person vielleicht jedes Mal die Zähne aufeinander, wenn das Herz weh tut. Die Verspannung des Kiefers kann sich verselbstständigen, dann entstehen weitere körperliche Beschwerden, etwa im Nacken, die mit den seelischen auf den ersten Blick gar nicht zusammenhängen. Beim „Somatic Coaching“ geht es dann darum, die Zusammenhänge wahrzunehmen, um dauerhaft Verspannungen zu lösen und damit auch das Herz zu erleichtern. Und sich darin zu üben, andere, gesündere Muster zu verinnerlichen, auf Herzschmerz etwa nicht mehr mit körperlicher Anspannung zu reagieren.
Der Ansatz des Somatischen Coachings stellt damit grundlegend die alte Unterscheidung zwischen Geist und Körper, Verstand und Seele in Frage — ähnlich wie es die Naturwissenschaften zunehmend tun: Die neuesten Forschungen zeigen, dass „psychisch“ und „physisch“ zusammengehören, eins sind, ein Netzwerk. Und so lassen sich auch im Umgang mit Beschwerden neue Fragen stellen: Was ist der körperliche Prozess, der Verbitterung zu einem Magengeschwür werden lässt? Die Behandlungsweisen für das Magengeschwür sind dann auf einmal andere als zu jener Zeit, da die Schulmedizin sich für Psychologie und Meditation nicht interessierte.
Somatisches Coaching umfasst dementsprechend auch Gespräche, die wie beim Psychotherapeuten laufen, und Übungen, den Geist zu entspannen, um in den Körper hineinzuspüren, wie beim Yoga. Ausbildungen dazu bieten verschiedene Institute an, in den USA etwa die Schule von Strozzi-Heckler, in Deutschland die somatische Akademie in Berlin. Dort lernt man verschiedene therapeutische Methoden, wie die von Feldenkrais oder Grinberg, die alle auf der Annahme basieren, dass psychische und physische Prozesse ineinandergreifen.
Da der Begriff des „Somatischen Coachings“ aber noch nicht geschützt ist, wird unter ihm genauso viel versammelt wie unter dem des Coachings schon. In einem Artikel des Forbes Magazin mit dem Titel „Lead with your Body in Mind“, „Führe mit dem Körper im Kopf“ geht es etwa darum, dass Unternehmen die Körper der Angestellten in Fortbildungen einbeziehen sollten, um deren Führungsstil zu optimieren.
Der Ansatz von Bakardjiev in Berlin ist ganzheitlicher. Es soll ihm besser gehen, dem Körper, dem ganzen Menschen, der da in ihre Praxis kommt, und man muss eben nicht erst krank sein und unter akuten Schmerzen leiden, um Raum für Verbesserung des Wohlbefindens zu haben.
Es ist ein emanzipatorischer Ansatz, der aber den Einzelnen als ein sozialisiertes Wesen anerkennt, das angewiesen auf andere und verwoben in verschiedene Beziehungen und gesellschaftliche Arrangements ist. Totale Befreiung ist demnach nicht möglich. Auch Sorgen über eine prekäre finanzielle Lage oder die Verzweiflung über eine Krebserkrankung lassen sich natürlich nicht wegatmen, Armut und Tumore erst recht nicht. Und selbst viele der Muster, die die Menschen verinnerlicht haben, Verhaltensweisen und ihre körperlichen Gefährten sind nicht weggezaubert, nur weil man sich ihrer bewusst wird.
Aber — das ist die Theorie des somatischen Coachings — Achtsamkeit und Aufmerksamkeit ihnen gegenüber schenken doch ein bisschen mehr Handlungsspielraum und vor allem auch mehr Gelassenheit. „Ah, Du schon wieder“, könnte man laut Bakardijev etwa zur Empörung sagen, die einem die Luft nimmt, die einen die Oberschenkel anspannen und die Schultern kaum merklich hochziehen lässt. „Ihr schon wieder.“ Und vielleicht entspannen sich die Schultern so von allein schon ein wenig. Und dann atmet man tief und erkundet, was einen eigentlich empört hat. Und vielleicht kann man das nächste Mal die Empörung gelassen dagegen richten — statt gegen sich selbst.
Mehr zu Eva Bakardjiev hier.