Missy Magazine
Juli 2019
„Rund 100.000 Kinder, die jedes Jahr das Licht der Welt nicht erblicken, sind in meinen Augen ein Skandal. Diese Kinder fehlen (…) in der Geburtenrate des Landes“, schreibt Birgit Kelle anlässlich der Neuregelung von 219a im Magazin „Focus“. Kelle ist Autorin der Bestseller „Dann mach doch die Bluse zu. Ein Aufschrei gegen den Gleichheitswahn“ von 2013 und „GenderGaga. Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will“ von 2015. Ihre Texte erscheinen regelmäßig in der Wochenzeitung „Junge Freiheit“, dem Sprachrohr der Neuen Rechten, aber auch in „Die Welt“ und in „The European“. Sie steht beispielhaft für die Anschlussfähigkeit der so genannten Lebensschutzbewegung an die Neue Rechte und Kelles Reichweite zeigt, wie etabliert antifeministische Diskurse und Haltungen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein sind.
Als Paragraph 219a nach monatelangem Protest schließlich Anfang des Jahres überarbeitet wurde, hätte man denken können, es tue sich was in diesem Land: Endlich werde den letzten verbliebenen Gesetzen aus der Nazi-Zeit ein Ende gemacht. Doch das Ergebnis ist nur eine Schein-Reform, die ärztliche Vermittlung von Information über Schwangerschaftsabbrüche wird weiter kriminalisiert, und auch darin zeigt sich, wie groß der Einfluss der Abtreibungsgegner*innen heute wieder ist.
Genau wie im Ursprung der ganzen Debatte: Dass im Bundestag nach 20 Jahren wieder über das Selbstbestimmungsrecht der Frau gestritten wurde, liegt vor allem daran, dass zum ersten Mal eine Gynäkologin auf Basis von 219a schuldig gesprochen wurde. Ende 2017 wurde die Allgemeinärztin Kristina Hänel vom Amtsgericht Gießen zu einem Bußgeld von 6.000 Euro verurteilt, weil sie aus Sicht des Gerichts auf ihrer Homepage Werbung für Schwangerschaftsabbrüche gemacht hatte — obwohl sich auf ihrer Seite nicht einmal genaue Informationen zum Schwangerschaftsabbruch finden; nur, dass Hänel einen solchen in ihrer Praxis anbietet, wird erwähnt. Gegen Hänel wurde auch zuvor schon zweimal Anzeige erstattet, doch nie waren Briefe aus dem Gericht gefolgt, und genauso ging es anderen Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche anboten — der Nazi-Paragraph war für die Rechtssprechung schon lange nicht mehr relevant. Bis jetzt.
Hänel selbst hat mehrfach darauf hingewiesen, dass sich darin der Einfluss der Neuen Rechten zeige. Auch der Ton in den Emails an sie habe sich verändert: Die sogenannte Lebensschutzbewegung habe sie schon immer „teeren und federn“ wollen, sagt Hänel, allerdings mit einem eindeutigen Bezug zu Gott, jetzt aber heiße es etwa, man möge ihr „in die Semiten-Hackfresse reinschlagen, bis das Hirn sich auf dem Boden verteilt“.
Die Gießener Staatsanwaltschaft hatte erklärt, der Paragraf solle verhindern, dass „der Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt wird“. Diese Begründung, die jetzt auch vom Bundestag bestärkt wurde, entspricht der Haltung derer, die Hänel angezeigt haben: So genannten Lebensschützer*innen rund um die „Initiative Nie Wieder”, die auf Internetseiten wie Babycaust.de Schwangerschaftsabbrüche als ein schlimmeres Verbrechen als den Holocaust darstellen und jährlich etwa den „Marsch für das Leben“ in Berlin veranstalten. Es entspricht deren Logik nicht nur, es befeuert sie:
In Frankfurt demonstrieren sie dieses Jahr das dritte Mal in Folge während der Fastenzeit 40 Tage lang vor dem Büro von Pro Familia und halten dabei etwa blutverschmierte Fotos von abgetriebenen Föten höherer Schwangerschaftswochen in die Luft. In München musste ein Arzt, der Abtreibungen durchführt, seine Praxis ins Umland verlegen, um den täglichen Protestaufläufen vor seiner Tür zu entkommen. Anti-Abtreibungs-Aktivist*innen unterhalten ganze Listen im Internet mit Namen von Ärzt*innen, gegen die sie auf Basis von 219a Anzeige erstattet haben — und die Anzahl der Anzeigen nimmt zu.
Bei den „Mahnwachen“ und Demonstrationen zeigt sich die Veränderung der Szene ebenso sehr wie in den Emails an Hänel: Die Anhänger*innen sind jünger geworden, sie tragen nicht mehr alle ein großes Kreuz vor sich her und sprechen seltener Gebete. Stattdessen ruft dort heute etwa Birgit Kelle selbstbewusst ihre Slogans ins Mikrophon. Und danach fährt sie in die Redaktion von „Der Spiegel“, wohin eine wie sie heute eingeladen wird, um über Feminismus zu diskutieren (Ausgabe 13/2018).
Dort sagt Kelle dann, dass Männer und Frauen von Natur aus unterschiedlich seien, dass die #Metoo-Debatte „völlig hysterisch“ sei und dass Frauen wegen des Feminismus keine richtigen Mütter mehr sein dürften. Kein Wunder, dass sie solche Aussagen trifft, angesichts der Titel, die ihre Bücher tragen. Erschütternd aber, dass sie nicht nur im „Focus“, sondern auch schon im „Spiegel“ den Platz dafür bekommt, ihre Agenda gegen den „Gender-Wahn“ zu verbreiten.
Kelle ist nur eine von vielen, die unter „Lebensschutz“ den Schutz der „natürlichen“ Familie versteht, der deutschen Kleinfamilie, dem Leitbild der Neuen Rechten, der Identitären, der AfD.
„Männlichkeit ist kein soziales Konstrukt“ lautete einer von deren Wahl-Slogans und auf dem Plakat war eine Ritterrüstung zu sehen: Der Mann ist stählern, unzerstörbar. Er soll endlich wieder seiner Natur entsprechen dürfen, das fordert auch Björn Höcke, wenn er ruft: „Wir brauchen mehr Männlichkeit.“ Dazu muss der Gegenpart, die Frau, ebenfalls wieder auf den Platz, den die Natur ihr vermeintlich bereithält: Auf dem Plakat wiegt sie ein Baby im Arm. In dieser Ordnung ist klar, wer das Sagen hat. Deshalb finden Frauke Petry und Birgit Kelle auch #Metoo falsch: Die Frau sei nunmal von Natur aus das schwächere Geschlecht. Darüber brauche man sich nicht zu beschweren.
Über ihren Körper hat sie nicht zu verfügen — er soll stattdessen zur Verfügung stehen, den Männern, die von Natur aus ein Anrecht auf sie hätten. Dem deutschen Volk, das berechtigt sei, Nachwuchs zu beanspruchen.
Beispiele dafür, wie sich vermeintlicher Lebensschutz mit rechtem, rassistischem Denken verknüpft, gibt es genug. Nicht nur in Kelles Focus-Artikel heißt es, jeder Schwangerschaftsabbruch bewirke, dass ein Kind in der Geburtenrate dieses Landes fehle. Am 27.02. 2017 twitterte der AfD-Politiker Andreas Wild, der im Berliner Abgeordnetenhaus im Integrationsausschuss sitzt, noch deutlicher: „Für Einwanderung durch den Geburtskanal deutscher Frauen. Gegen demographisches Verhungern. Ein Volk, das weniger als 2 Kinder/Frau hat, stirbt.“
Jede Frau, die eine Schwangerschaft abbricht, zerstört in den Augen der Rechtspopulist*innen die Nation, das deutsche Volk und das Christentum, das schließlich wegen der angeblich fortschreitenden Islamisierung bedroht sei. So verbinden sich rassistisches und sexistisches Gedankengut all jener, die sich im „Kulturkampf“ wähnen. Genauso wichtig wie die Schließung der Grenzen ist ihnen die Abschaffung der Gender-Studies und das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen.
Diesen rechten Diskurs befeuerte auch der Tagesspiegel- und Zeit-Magazin-Kolumnist Harald Martenstein, als er im Zeit Magazin vom 28. Februar über späte Schwangerschaftsabbrüche schrieb: Skandalös sei die Forderung nach postnataler Abtreibung, es handle sich um „Mord“. Martenstein behauptete, der Feminismus habe nun schon bewirkt, dass die Jusos ein Recht auf Abtreibung bis zum neunten Monat verlangen, die US-Demokrat*innen noch während der Wehen und zwei Forscher*innen sogar die nachgeburtliche Tötung. Verifiziert waren diese Behauptungen nicht, wie die Rubrik „Faktenfinder“ der „Tagesschau“ nach Erscheinen von Kartensteins Kolumne klarstellte: Keine der drei Gruppen aus seinem Artikel würde ein Recht auf „postnatale Abtreibung“ wollen, auch wenn man über gelockerte Abbruchgesetze debattiere. Der Artikel steht weiterhin online, ohne jegliche Korrektur, er beginnt mit den Worten: „In den USA verlangen einige Linke und Feministinnen, dass Kinder in Zukunft auch noch während der Geburt getötet werden dürfen.“
Die Wirklichkeit sieht genau wegen dieser rechtspopulistischen, antifeministischen Propaganda anders aus: Die Anzahl von Kliniken und Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, hat sich in den letzten 15 Jahren in Deutschland fast halbiert und die Bundesregierung gibt Millionen für eine Studie zum ‚Post-Abortion-Syndrom‘ aus, ein Begriff aus dem Vokabular der Lebensschützer*innen. Mit der Studie sollen die „seelischen Folgen“ von Abtreibungen erforscht werden – dabei ist gut belegt, dass Frauen* Abtreibungen mehrheitlich nicht bereuen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hinterfragt erneut die Zurechnungsfähigkeit von Frauen*, passend zu seinem Rat für sie, sie mögen die Pille danach nicht „wie Smarties essen“. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau* wird wieder in Frage gestellt.
Seit Jahrzehnten kämpfen Feminist*innen weltweit gegen staatlich-patriarchale Zugriffe auf ihren Körper und für die Legalisierung von Abtreibungen. Diese Kämpfe sind aktuell wie eh und je, wie das Berlin Bündnis „What the Fuck?! My Body! My Choice!“ im letzten Aufruf schreibt und mit den Worten schließt: „Lasst uns deswegen gemeinsam eintreten für die Entkriminalisierung von Abtreibung und die Abschaffung der Paragrafen 218 und 219a StGB und für sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung – für eine befreite Gesellschaft!“