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Im Mittelpunkt steht die Verkehrung der Verhältnisse: Adrian Daub zeigt, wie sich der Diskurs zur Cancel Culture entwickelt hat und wem er dient

 

FAZ
Februar 2023

In der Süddeutschen Zeitung hieß es gerade erst, die Cancel Culture an US-Universitäten werde immer aggressiver. Die Welt schrieb ebenfalls mit Blick auf die USA: „Wenn die Angst vor der Cancel Culture für Professoren zu groß wird“. Und in der NZZ warnte der Chefredakteur zum wiederholten Mal vor jener neuen Form des Extremismus: Cancel Culture. So schlimm wie in den USA, wo viele Professoren aus Angst vor Antirassisten und Gender-Polizisten inzwischen kaum mehr den Mund aufmachen könnten, sei es in Deutschland zwar noch nicht — aber Vorsicht!

Adrian Daub, ein mittelalter, weißer Mann, geboren in Köln, ist ein solches Exemplar, das vielen deutschsprachigen Redaktionen besonders bedroht erscheint: Er ist Professor für Literaturwissenschaften an einem amerikanischen Campus, in Standford, er lehrt also mitten am Schauplatz des Geschehens. Wer, wenn nicht er, sollte ein Buch zur Sache schreiben? Das hat er nun getan und es ist eine umfang- und kenntnisreiche Studie geworden.

Allerdings geht es darin weniger um Fälle, in denen tatsächlich einmal ein Kollege zum Schweigen gebracht wurde — was nach Daubs Recherchen kaum jemals so passiert ist. Sondern vielmehr um diejenigen, die in Talkshows und auf Titelseiten laut die neue Kultur des „Cancelns“ heraufbeschwören, um deren „moralische Panik“, so heißt die Unterzeile. Sein Buch zeigt vor allem eines: Welch Projektion die Rede von der Cancel Culture ist. Daub analysiert, wie sich das Narrativ aus Anekdoten entwickelt hat, an denen diejenigen, die sie erzählen, selten Teil hatten, zu denen sie, wenn überhaupt, nicht mehr als eine Person, nämlich die vermeintlich gecancelte, befragt haben, wie aus Gerüchten ein Diskurs wurde, der sowohl in den USA als auch in Europa verfing und der seitdem immer wieder und immer weiter die Gefahr beschwört: nämlich dass die Meinungsfreiheit zunehmend eingeschränkt werde, dass junge Linke, antirassistische und feministische Aktivistinnen, Anhänger der Identitätspolitik anderen, vor allem alten weißen Männern, den Mund verbieten würden, dass Letztere bestimmte Dinge nicht mehr sagen dürfen, dass sie kaum mehr Kant für den Lehrplan vorschlagen können, ohne vom woken Mob gecancelt zu werden.

Als vom Canceln das erste Mal die Rede war, hatte es überhaupt nichts mit Universitäten zu tun. In Internet-Subkulturen schrieben die Leute, so Daubs Recherchen, dass sie irgendeinen Star auf Social Media nicht mehr mögen, seine Musik nicht mehr hören, kein Fan mehr sein wollen, weil dieser Star in ihren Augen irgendetwas Unerfreuliches gemacht hat. Sie verkündeten, ihn fortan zu „canceln“. Der Hashtag #Cancel Culture entstand, um eine Äußerung zu benennen, die ironisch die Machtverhältnisse ignorierte.

Der erste, der wiederum die Ironie dieses Phänomens ignorierte, war Kanye West. Der Rapper, einer der reichsten Männer der Welt, der zuletzt vor allem durch seine öffentliche Hitler-Verehrung auffiel, führte das Wort „Canceln“ in den Mainstream ein. Er trug es aus den Nischen im Netz in die breite Öffentlichkeit, als er sich in einem Interview mit der „New York Times“ beschwerte, er sei gecancelt worden. Und zwar, weil er Donald Trump nicht gecancelt habe.

Diese Posse ist mehr als eine Anekdote, sie offenbart ein Muster hinter dem Cancel Culture-Diskurs, wie Daub herausarbeitet: Die Verkehrung der Verhältnisse. Keiner führt dieses Muster so offensichtlich vor wie Donald Trump, ein Mann, der vier Jahre lang Präsident der USA war, der während dieser Jahre mit einem Knopfdruck die Welt hätte auslöschen können, sich aber parallel auf Twitter regelmäßig beschwerte, dass er dieses oder jenes nicht mehr sagen dürfe, der sich zum ohnmächtigen Opfer und Außenseiter stilisierte, als er längst schon Tränengas gegen Demonstrierende einsetzte.

Und so ist es kein Zufall, dass sich der Mythos vom Canceln in der Zeit der Trump-Jahre verbreitete und damit an den Diskurs zu Political Correctness anknüpfte, mit dem Konservative bereits seit den Neunzigerjahren Stimmung gegen Linke machten. Wie dabei der Campus immer mehr ins Visier geriet und warum sich genau jener Fokus eignete, um liberale Kräfte in den USA mit einzubeziehen, rekonstruiert Daub präzise. Ein ausführliches, detailgenaues Kapitel widmet sich der Beziehung der amerikanischen Gesellschaft zu ihren Universitäten. Deren Entwicklung zeichnet der Autor von der Reagan-Ära bis heute nach, anhand von literarischen und vermeintlich faktenbasierten Erzählungen, deren melodramatischen Charakter er jeweils herauszustellen weiß. Besonders einflussreich sei das Buch „Illiberal Education“ aus dem Jahr 1991 gewesen: Die Universität sei elitär und gleichmacherisch, relativistisch und moralisch, heißt es darin. Oder „The Closing of the American Mind“ von 1987, ein Bestseller, dessen Autor Allan Bloom bereits „die Selbstabsonderung afroamerikanischer Studierender“ und die „Unnatürlichkeit des Feminismus“ beklagte, der am Campus an Bedeutung gewinne.

Daub greift den Begriff der moralischen Panik des Londoner Soziologen Stanley Cohen auf, der damit bereits 1972 die strategische Mobilisierung etablierter Medien gegen damals erstarkende Jugendkulturen beschrieb. Und so ist es nach Daubs Analyse auch kein Zufall, dass fast 50 Jahre später das Schimpfen über die Jugend genau dann wieder das Level einer solchen Panik erreicht, als junge Bewegungen die alten Machtverhältnisse herausfordern wie selten in den Jahrzehnten zuvor: als antirassistische und feministische Kämpfe mit „Black Lives Matter“ und „metoo“ international zu neuer Größe heranwachsen.

Die erste Erwähnung des Begriffs der Cancel Culture in einer deutschsprachigen Zeitung findet sich so auch mit direktem Bezug auf metoo am 25. Juli 2019 in der „Welt“: Louis C.K. habe „die volle Wucht der Cancel Culture zu spüren“ bekommen, heißt es da, nachdem der Komiker mehrere Frauen sexuell belästigt hatte, dies auf ihre Vorwürfe hin eingestand und danach ein paar Wochen nicht auftrat. Und an beinahe jedem der Beispiele, die Daub aufführt, offenbart sich seine These der Verdrehung: Die Rede von der Cancel Culture macht die Thematisierung von Sexismus zum Skandal — statt den Sexismus selbst.

Diejenigen deutschsprachigen Autoren, die vor Cancel Culture warnten, glaubten schnell, so schreibt Daub, die eigentliche Gefahr dahinter zu entdecken: linke Identitätspolitik. Und so gerieten auch hierzulande die amerikanischen Universitäten in den Fokus, denn jenes vermeintlich autoritäre Denken werde dort schließlich gelehrt, so heißt es. Daub klärt hier auf: Ideen linker Identitätspolitik werden in den Critical Race und Gender Studies zwar wirklich verbreitet, aber als emanzipatorische Ansätze, die Gruppenidentitäten und die damit verbundenen Hierarchien letztlich abbauen wollen.

Das sei jedoch nicht im Sinn der Redaktionen, so Daub. Deren „Kritik der Identitätspolitik ist in vielen Fällen schlicht Identitätspolitik für Menschen, die Jürgen heißen.“ Hier zeigt sich der polemische Ton, den Daub vor allem im Bezug auf die hiesigen Feuilletons anschlägt. Aber diese Polemik tut dem Buch gut, weil sie die Selbstgerechtigkeit der Cancel Culture-Apologeten vorführt.

Daubs Versäumnis ist ein anderes. Denn obwohl er selbst schreibt, dass der Cancel Culture-Diskurs in jedem Land Eigenheiten aufweise, reißt er den deutschen Kontext im Buch im Gegensatz zum amerikanischen nur an. Es macht durchaus Sinn, einem deutschsprachigen Publikum, das viel über die amerikanischen Universitäten liest, die Genese der US-Campus-Geschichten zu erläutern. Doch im Verhältnis dazu ist der Hintergrund, vor dem sich die Debatte in Europa, speziell in Deutschland abspielt, etwas knapp zusammengefasst. Ganz allgemein verweist Daub immer wieder darauf, dass der Cancel Culture-Diskurs rechte Ideologie im Gewand des Liberalismus verbreite. Gerade da hätte er herausarbeiten können, wie früh sich die AfD die Rede vom Canceln und der Bedrohung der Meinungsfreiheit zu eigen gemacht hat. Thilo Sarrazins Buch vom „Tugendterror“ taucht in Daubs Analyse noch auf, aber dass eine neue Rechte sich seit Jahren als marginalisiert und zensiert darstellt, um sich Zugang zu diversen Talkshows zu verschaffen, erwähnt er nicht. Der Blick bleibt vor allem auf die Presse gerichtet. Dass der Journalismus unter dem Cancel Culture Diskurs leidet, offenbart sich dabei ausführlich. Dass er den Rechten in die Hände spielt, die selbst die Massen mobilisieren, um etwa gegen sexuelle Aufklärung in Schulen vorzugehen, die also Lehrpläne tatsächlich zensieren wollen, deutet Daub nur an.

Sein Buch ist trotzdem zu empfehlen, denn es klärt umfangreich und anhand verblüffender Informationen über das Diskursphänomen Cancel Culture auf. Eine davon ist etwa, dass bei einer repräsentativen Umfrage in den USA im September 2020 fast 40 Prozent der Befragten angaben, noch nie von Cancel Culture gehört zu haben.