Tagesspiegel
Juni 2020
Sie wollen nicht zurück zum Vorher, denn das Vorher sei falsch gewesen, schreiben Cate Blanchett, Madonna und der Philosoph Jean Luc Nancy zusammen mit anderen Stars und Wissenschaftlerinnen aus der ganzen Welt in einem offenen Brief zur Pandemie.
Die Situation erinnert an 2008, als während der Finanzkrise die Kapitalismuskritik einige Stimmen dazu gewann – und dann trotzdem alles beim Alten blieb. Doch diesmal könnte es anders kommen. Corona offenbart die Zusammenhänge der Ausbeutung wie keine Krise zuvor und trifft auf eine Generation, die weltweit bereits in neuem Ausmaß aufbegehrt. Die Pandemie verdeutlicht die Verbindung der verschiedenen bislang scheinbar separaten Kämpfe. Und so könnte der „kapitalistische Realismus“ nun ein Ende haben und eine andere Zukunft eine Chance.
„Kapitalistischen Realismus“ nannte Mark Fisher 2009 den Zustand nach der Finanzkrise: „das weitverbreitete Gefühl, dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politische und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu vorzustellen.“ Auch „Occupy Wall Street“ versandete nach einem Jahr, die Aktivistinnnen hatten kein kohärentes Anliegen jenseits der Besetzung der Wall Street entwickelt. Liberale wie der FDP-Politiker Christian Lindner oder der Philosoph Martin Rhonheimer glaubten auch nach dem Börsencrash noch: Nur Marktwirtschaft bringe Fortschritt und Fairness, sie läge schließlich einzig Gewinnorientierung nahe und der Gewinn steige, je mehr Arbeiterinnen auf Augenhöhe miteinander konkurrierten, egal, woher sie kämen oder wie sie aussähen.
Dass der Kapitalismus aber Rassismus und Sexismus nicht abgeschafft hat, wird angesichts der Corona-Krise deutlicher denn je: Care-Work etwa ist Sache derjenigen, die zu Frauen gemacht werden, ob unbezahlt daheim oder unterbezahlt außer Haus, in Pflegediensten und Pflegeheimen, wo sie fast 90 Prozent des Personals stellen. Bravo, riefen nun die Politiker, Gehaltserhöhung gab es keine. Offenkundig wurde auch, dass nicht nur die Arbeitszeit, sondern auch die Leben der Menschen aus Rumänien, Bulgarien und Polen, die hier in Fleischfabriken beschäftigt sind, weniger wert sind als die der deutschen Staatsbürger. In den USA starben Schwarze und Menschen of Color deutlich häufiger an Corona, auch sie arbeiten im Schnitt in Jobs, in denen Social Distancing oder Homeoffice nicht möglich sind. Und wenn sie nicht ihr Leben verloren, verloren sie die Anstellung. Hierzulande wurden wiederum Frauen stärker zur Kurzarbeit verpflichtet als Männer, auch ihnen wurde häufiger ganz gekündigt, wie das Institut für Wirtschaftsforschung zeigte.
Die Maßnahmen zur Eindämmung vergrößern die Schere der Ungleichheit. Zwischen den ohnehin schon Vermögenden — Jeff Bezos etwa, Chef des Onlineversandhändlers Amazon, ist durch die Coronakrise seit Jahresbeginn um 23,6 Milliarden Dollar reicher geworden — und den Mittellosen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Menschen, die als weiß gelten, und allen anderen.
Der Kapitalismus mag Diskriminierung nicht allein verursachen, doch er verstärkt sie: In einem System der Konkurrenz hat jeder Arbeitgeber ein Interesse daran, bereits bestehende Abwertung von Menschen zum Anlass für Lohndrückerei oder Entlassungen zu nehmen, und jeder einzelne Angestellte, der selbst Angst vor dem Jobverlust und zunehmender Konkurrenz hat, wird ebenfalls seine Privilegien zu nutzen suchen.
Diese Offenbarung fällt in eine Zeit, in der die Voraussetzungen für Veränderung sich ganz anders gestalten als zur Finanzkrise 2008, in eine Zeit, in der sich bereits Bewegungen formiert hatten, die allesamt die gesellschaftlichen Verhältnisse im Grunde angreifen: aus ökologischer, aus feministischer und aus antirassistischer Motivation heraus — und deren gemeinsames antikapitalistisches Anliegen nun zusätzlichen Auftrieb erfährt.
Das sind erstens die #Fridaysforfuture-Proteste, die im Herbst vergangenen Jahres in Deutschland zum Klimastreik an einem Tag über 1,4 Millionen Menschen auf die Straße brachten. Die #fff-Gruppen, die sich mittlerweile vielerorts gebildet haben, wollen eine profitgetriebene Wirtschaftsweise überwinden. Die dezentral-diffuse Kollektivität, die unter dem Hashtag demonstriert, hat zwar bislang nicht das Ende der Marktwirtschaft an sich zum offiziellen Ziel erklärt, doch dass sich die Profitorientierung der Akteure am Markt kaum überwinden lässt, ohne das Prinzip des Wettbewerbs abzuschaffen, erklären Schülerinnen am Freitagvormittag in der Fußgängerzone und heben ihr Schild: „Burn Capitalism, not Coal“.
Zweitens hat sich seit 2016 eine neue globale queerfeministische Bewegung entwickelt, die gleichermaßen Antrieb und Ausdruck in #metoo, aber auch in den Protesten um #niunamenos fand. Letztere richteten sich zunächst in Mexiko gegen die krasseste Form patriarchaler Gewalt, gegen Femizide, und erfassten dann als antipatriarchale Demonstrationen ganz Amerika und schließlich Europa. Ihr Anliegen ist es, den Zusammenhang zwischen der sexistischen Gewalt und der Ausbeutung von Care-Arbeit aufzuzeigen, zu zeigen, dass alles, was „weiblich“ konnotiert ist, Einfühlungsvermögen und Fürsorglichkeit etwa, in kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaften abgewertet wird. Gegen diese Abwertung demonstrierten in Spanien am Frauenkampftag 2018 über fünf Millionen Frauen und Queers. Sie riefen: „Wenn wir streiken, steht die Welt still“ und legten die Arbeit nieder — so dass tatsächlich fast alle Bereiche brach lagen, die nun im Corona-Lockdown als „systemrelevant“ galten. Diese neue feministische Bewegung ist dabei nicht nur kritisch gegenüber Profit-Logiken, sie beschreibt in ihren Texten auch, wie sich verschiedene Formen der Diskriminierung verknüpfen, etwa durch nationalistische Programme, die verlangen, die „eigenen“ Frauen mögen den Volkskörper reproduzieren.
Und so verbindet sie sich mit der antirassistischen Bewegung, die sich in den Vereinigten Staaten gerade durch die #Blacklivesmatter-Proteste artikuliert und auch in deutschen Städten vor allem junge Menschen auf die Straße treibt — gegen Polizeigewalt, die nicht aufgeklärt wird, gegen rechten Terror und die Zunahme antisemitischer Gewalt. In den Aufrufen steht auch: „Von Moria bis Hanau, von Ellwangen bis Neukölln, von Halle bis Minneapolis“. Die Geflüchteten, die sich einreihen, in die Proteste, rufen: „Wir sind hier, weil Ihr unsere Länder zerstört.“ Und diejenigen, die sonst zu #fridaysforfuture auf die Straße gehen, klatschen — in ihren Augen hängen die Ausbeutung der Natur und der Menschen schließlich zusammen.
Manchen über 30 mögen diese vermeintlich aggressiven Phrasen abschrecken, aber das wird der jungen Bewegung nicht gerecht. Zwar heißt es dort „Check your Privilege“: Ein jeder, und vor allem ein jeder weiße, wohlhabende Mann wird aufgefordert, die eigene Position innerhalb der verschiedenen Hierarchien zu reflektieren, den eigenen Habitus zu hinterfragen, der die strukturellen Ungleichheiten mit aufrecht erhält.
Darin steckt aber auch eine Einladung an alle, die verinnerlichte Abgrenzung zu verlernen, freier zu werden vom kategorialen Denken, das auch die Privilegierten selbst einschränkt. Sehr viele derer, die rassistisch und sexistisch agieren, verteidigen schließlich gar nicht bewusst ihre Privilegien, sondern fürchten um ihre eigenen Identitäten, die sie als Männer etwa in Abgrenzung von Frauen entwickelt haben, die ihnen von klein auf als das andere Geschlecht präsentiert wurden, und in Abgrenzung von denen, die sie etwa als nicht deutsch betrachten.
Das neue Projekt, das aus der Verbindung dieser Kämpfe entsteht, könnte die vermeintliche Opposition von Identitätspolitik und Klassenkampf überwinden, werden doch in der Verbindung ihrer Analysen die Zusammenhänge der symbolischen und der materiellen Diskriminierung deutlich.
So scheint es nur konsequent, dass sich viele derer, die sich mit einer oder vielleicht allen der drei genannten Bewegungen identifizieren und in ihnen engagieren, auch explizit kommunistisch orientieren, sich als Teil des „millenial socialism“ erachten. „Jacobin“ ist ihre Lektüre, und viele neue Magazine und Blogs mehr, wie etwa „Gay Communism“ oder „Commune“, die mit dem alten Bild eines drögen, verkrampften, lustfeindlichen Sozialismus brechen. Die 30-jährige Alexandra Occasio Cortez in den USAund die 26-jährige Grace Blakeley in Großbritannien sind zwei der bekanntesten Fürsprecherinnen der neuen Bewegung, letztere schrieb das Buch ‘Stolen: How to save the world from financialisation’, sie ist damit auch eine Ikone der #fff, nennt sich selbst auf twitter „Moët Marxist“ und ruft zu Arbeiterinnen-Streiks auf. Hierzulande kritisierte Kevin Künert gerade auf einem Podium im Berliner Ensemble den Reflex, mit dem so viele Menschen auf Wörter wie Sozialismus reagierten, als ließe sich darunter nichts anderes vorstellen als die einstige Diktatur der Sowjetunion. Vielleicht aber gehört dieser Reflex der Zeit des kapitalistischen Realismus an, den Fisher nach der Finanzkrise beschrieb. Vielleicht ist er nun so veraltet wie die Frage, ob „Reform oder Revolution“. Die Bewegungen heute würden wohl sagen: Keins davon.
Sie entwickeln neue Organisationsweisen: Mieter*innen in Berlin sammelten 2019 fast 80.000 Unterschriften zur Enteignung großer Immobilienfirmen, Deliveroo-Fahrer*innen und die Pflegekräfte in den Krankenhäusern streiken, ohne die alten Gewerkschaften zu brauchen. Unter dem Schlagwort Plattformkooperativismus bauen Menschen Alternativen zu den Angeboten der Tech-Giganten auf, entwerfen genossenschaftliche Modelle, und die Elektro-Autos etwa, die wir jetzt schon teilen, gehören dann auch wirklich allen, während persönliche Daten jeweils im Besitz der Einzelpersonen bleiben, egal, in welchen Social Media Kanal man sie einschleust. Die Menschen wollen sich geborgen fühlen, aber dafür nicht den Wohlfahrtstaat zurück, den die alten Linken so lange verherrlichten. Der Wohlfahrtsstaat war schließlich ein Gebilde, das Grenzen nach außen zieht und im Inneren die heterosexuelle Kleinfamilie fördert, in der diejenigen, die zu Frauen gemacht werden, zuhause kostenlos die Reproduktionsarbeit übernehmen, während von denjenigen, die als Männer gelten, erwartet wird, dass sie diszipliniert arbeiten, aufsteigen, sich durchsetzen. Das ist nicht die Zukunft, nach der sich viele junge Menschen sehnen. Sie bauen eine andere auf, planen Wohnprojekte, in denen sie gemeinsam Kinder großziehen, egal, wer die biologischen Eltern sind, in denen sie Co-Parenting machen und je nach Einkommen die gemeinsamen Einkäufe bezahlen. In „Solidarity City“-Initiativen entwickeln sie Konzepte und Karten der Stadt etwa für Menschen ohne Papiere, damit die wissen, wo sie medizinische Versorgung, Bildung und Arbeit bekommen können. Sie wollen die Grenzen der vermeintlich natürlichen Geschlechter abschaffen und erst recht die von Europa. Sie sehnen sich nach dem, was Fisher sich so sehr wünschte: Nach einer Zukunft, die Veränderung bringt, die neugierig macht, einer Zukunft, die man gar nicht erwarten kann.
Foto: Jim Watson/AFP
Die Situation erinnert an 2008, als während der Finanzkrise die Kapitalismuskritik einige Stimmen dazu gewann – und dann trotzdem alles beim Alten blieb. Doch diesmal könnte es anders kommen. Corona offenbart die Zusammenhänge der Ausbeutung wie keine Krise zuvor und trifft auf eine Generation, die weltweit bereits in neuem Ausmaß aufbegehrt. Die Pandemie verdeutlicht die Verbindung der verschiedenen bislang scheinbar separaten Kämpfe. Und so könnte der „kapitalistische Realismus“ nun ein Ende haben und eine andere Zukunft eine Chance.
„Kapitalistischen Realismus“ nannte Mark Fisher 2009 den Zustand nach der Finanzkrise: „das weitverbreitete Gefühl, dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politische und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu vorzustellen.“ Auch „Occupy Wall Street“ versandete nach einem Jahr, die Aktivistinnnen hatten kein kohärentes Anliegen jenseits der Besetzung der Wall Street entwickelt. Liberale wie der FDP-Politiker Christian Lindner oder der Philosoph Martin Rhonheimer glaubten auch nach dem Börsencrash noch: Nur Marktwirtschaft bringe Fortschritt und Fairness, sie läge schließlich einzig Gewinnorientierung nahe und der Gewinn steige, je mehr Arbeiterinnen auf Augenhöhe miteinander konkurrierten, egal, woher sie kämen oder wie sie aussähen.
Dass der Kapitalismus aber Rassismus und Sexismus nicht abgeschafft hat, wird angesichts der Corona-Krise deutlicher denn je: Care-Work etwa ist Sache derjenigen, die zu Frauen gemacht werden, ob unbezahlt daheim oder unterbezahlt außer Haus, in Pflegediensten und Pflegeheimen, wo sie fast 90 Prozent des Personals stellen. Bravo, riefen nun die Politiker, Gehaltserhöhung gab es keine. Offenkundig wurde auch, dass nicht nur die Arbeitszeit, sondern auch die Leben der Menschen aus Rumänien, Bulgarien und Polen, die hier in Fleischfabriken beschäftigt sind, weniger wert sind als die der deutschen Staatsbürger. In den USA starben Schwarze und Menschen of Color deutlich häufiger an Corona, auch sie arbeiten im Schnitt in Jobs, in denen Social Distancing oder Homeoffice nicht möglich sind. Und wenn sie nicht ihr Leben verloren, verloren sie die Anstellung. Hierzulande wurden wiederum Frauen stärker zur Kurzarbeit verpflichtet als Männer, auch ihnen wurde häufiger ganz gekündigt, wie das Institut für Wirtschaftsforschung zeigte.
Die Maßnahmen zur Eindämmung vergrößern die Schere der Ungleichheit. Zwischen den ohnehin schon Vermögenden — Jeff Bezos etwa, Chef des Onlineversandhändlers Amazon, ist durch die Coronakrise seit Jahresbeginn um 23,6 Milliarden Dollar reicher geworden — und den Mittellosen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Menschen, die als weiß gelten, und allen anderen.
Der Kapitalismus mag Diskriminierung nicht allein verursachen, doch er verstärkt sie: In einem System der Konkurrenz hat jeder Arbeitgeber ein Interesse daran, bereits bestehende Abwertung von Menschen zum Anlass für Lohndrückerei oder Entlassungen zu nehmen, und jeder einzelne Angestellte, der selbst Angst vor dem Jobverlust und zunehmender Konkurrenz hat, wird ebenfalls seine Privilegien zu nutzen suchen.
Diese Offenbarung fällt in eine Zeit, in der die Voraussetzungen für Veränderung sich ganz anders gestalten als zur Finanzkrise 2008, in eine Zeit, in der sich bereits Bewegungen formiert hatten, die allesamt die gesellschaftlichen Verhältnisse im Grunde angreifen: aus ökologischer, aus feministischer und aus antirassistischer Motivation heraus — und deren gemeinsames antikapitalistisches Anliegen nun zusätzlichen Auftrieb erfährt.
Das sind erstens die #Fridaysforfuture-Proteste, die im Herbst vergangenen Jahres in Deutschland zum Klimastreik an einem Tag über 1,4 Millionen Menschen auf die Straße brachten. Die #fff-Gruppen, die sich mittlerweile vielerorts gebildet haben, wollen eine profitgetriebene Wirtschaftsweise überwinden. Die dezentral-diffuse Kollektivität, die unter dem Hashtag demonstriert, hat zwar bislang nicht das Ende der Marktwirtschaft an sich zum offiziellen Ziel erklärt, doch dass sich die Profitorientierung der Akteure am Markt kaum überwinden lässt, ohne das Prinzip des Wettbewerbs abzuschaffen, erklären Schülerinnen am Freitagvormittag in der Fußgängerzone und heben ihr Schild: „Burn Capitalism, not Coal“.
Zweitens hat sich seit 2016 eine neue globale queerfeministische Bewegung entwickelt, die gleichermaßen Antrieb und Ausdruck in #metoo, aber auch in den Protesten um #niunamenos fand. Letztere richteten sich zunächst in Mexiko gegen die krasseste Form patriarchaler Gewalt, gegen Femizide, und erfassten dann als antipatriarchale Demonstrationen ganz Amerika und schließlich Europa. Ihr Anliegen ist es, den Zusammenhang zwischen der sexistischen Gewalt und der Ausbeutung von Care-Arbeit aufzuzeigen, zu zeigen, dass alles, was „weiblich“ konnotiert ist, Einfühlungsvermögen und Fürsorglichkeit etwa, in kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaften abgewertet wird. Gegen diese Abwertung demonstrierten in Spanien am Frauenkampftag 2018 über fünf Millionen Frauen und Queers. Sie riefen: „Wenn wir streiken, steht die Welt still“ und legten die Arbeit nieder — so dass tatsächlich fast alle Bereiche brach lagen, die nun im Corona-Lockdown als „systemrelevant“ galten. Diese neue feministische Bewegung ist dabei nicht nur kritisch gegenüber Profit-Logiken, sie beschreibt in ihren Texten auch, wie sich verschiedene Formen der Diskriminierung verknüpfen, etwa durch nationalistische Programme, die verlangen, die „eigenen“ Frauen mögen den Volkskörper reproduzieren.
Und so verbindet sie sich mit der antirassistischen Bewegung, die sich in den Vereinigten Staaten gerade durch die #Blacklivesmatter-Proteste artikuliert und auch in deutschen Städten vor allem junge Menschen auf die Straße treibt — gegen Polizeigewalt, die nicht aufgeklärt wird, gegen rechten Terror und die Zunahme antisemitischer Gewalt. In den Aufrufen steht auch: „Von Moria bis Hanau, von Ellwangen bis Neukölln, von Halle bis Minneapolis“. Die Geflüchteten, die sich einreihen, in die Proteste, rufen: „Wir sind hier, weil Ihr unsere Länder zerstört.“ Und diejenigen, die sonst zu #fridaysforfuture auf die Straße gehen, klatschen — in ihren Augen hängen die Ausbeutung der Natur und der Menschen schließlich zusammen.
Manchen über 30 mögen diese vermeintlich aggressiven Phrasen abschrecken, aber das wird der jungen Bewegung nicht gerecht. Zwar heißt es dort „Check your Privilege“: Ein jeder, und vor allem ein jeder weiße, wohlhabende Mann wird aufgefordert, die eigene Position innerhalb der verschiedenen Hierarchien zu reflektieren, den eigenen Habitus zu hinterfragen, der die strukturellen Ungleichheiten mit aufrecht erhält.
Darin steckt aber auch eine Einladung an alle, die verinnerlichte Abgrenzung zu verlernen, freier zu werden vom kategorialen Denken, das auch die Privilegierten selbst einschränkt. Sehr viele derer, die rassistisch und sexistisch agieren, verteidigen schließlich gar nicht bewusst ihre Privilegien, sondern fürchten um ihre eigenen Identitäten, die sie als Männer etwa in Abgrenzung von Frauen entwickelt haben, die ihnen von klein auf als das andere Geschlecht präsentiert wurden, und in Abgrenzung von denen, die sie etwa als nicht deutsch betrachten.
Das neue Projekt, das aus der Verbindung dieser Kämpfe entsteht, könnte die vermeintliche Opposition von Identitätspolitik und Klassenkampf überwinden, werden doch in der Verbindung ihrer Analysen die Zusammenhänge der symbolischen und der materiellen Diskriminierung deutlich.
So scheint es nur konsequent, dass sich viele derer, die sich mit einer oder vielleicht allen der drei genannten Bewegungen identifizieren und in ihnen engagieren, auch explizit kommunistisch orientieren, sich als Teil des „millenial socialism“ erachten. „Jacobin“ ist ihre Lektüre, und viele neue Magazine und Blogs mehr, wie etwa „Gay Communism“ oder „Commune“, die mit dem alten Bild eines drögen, verkrampften, lustfeindlichen Sozialismus brechen. Die 30-jährige Alexandra Occasio Cortez in den USAund die 26-jährige Grace Blakeley in Großbritannien sind zwei der bekanntesten Fürsprecherinnen der neuen Bewegung, letztere schrieb das Buch ‘Stolen: How to save the world from financialisation’, sie ist damit auch eine Ikone der #fff, nennt sich selbst auf twitter „Moët Marxist“ und ruft zu Arbeiterinnen-Streiks auf. Hierzulande kritisierte Kevin Künert gerade auf einem Podium im Berliner Ensemble den Reflex, mit dem so viele Menschen auf Wörter wie Sozialismus reagierten, als ließe sich darunter nichts anderes vorstellen als die einstige Diktatur der Sowjetunion. Vielleicht aber gehört dieser Reflex der Zeit des kapitalistischen Realismus an, den Fisher nach der Finanzkrise beschrieb. Vielleicht ist er nun so veraltet wie die Frage, ob „Reform oder Revolution“. Die Bewegungen heute würden wohl sagen: Keins davon.
Sie entwickeln neue Organisationsweisen: Mieter*innen in Berlin sammelten 2019 fast 80.000 Unterschriften zur Enteignung großer Immobilienfirmen, Deliveroo-Fahrer*innen und die Pflegekräfte in den Krankenhäusern streiken, ohne die alten Gewerkschaften zu brauchen. Unter dem Schlagwort Plattformkooperativismus bauen Menschen Alternativen zu den Angeboten der Tech-Giganten auf, entwerfen genossenschaftliche Modelle, und die Elektro-Autos etwa, die wir jetzt schon teilen, gehören dann auch wirklich allen, während persönliche Daten jeweils im Besitz der Einzelpersonen bleiben, egal, in welchen Social Media Kanal man sie einschleust. Die Menschen wollen sich geborgen fühlen, aber dafür nicht den Wohlfahrtstaat zurück, den die alten Linken so lange verherrlichten. Der Wohlfahrtsstaat war schließlich ein Gebilde, das Grenzen nach außen zieht und im Inneren die heterosexuelle Kleinfamilie fördert, in der diejenigen, die zu Frauen gemacht werden, zuhause kostenlos die Reproduktionsarbeit übernehmen, während von denjenigen, die als Männer gelten, erwartet wird, dass sie diszipliniert arbeiten, aufsteigen, sich durchsetzen. Das ist nicht die Zukunft, nach der sich viele junge Menschen sehnen. Sie bauen eine andere auf, planen Wohnprojekte, in denen sie gemeinsam Kinder großziehen, egal, wer die biologischen Eltern sind, in denen sie Co-Parenting machen und je nach Einkommen die gemeinsamen Einkäufe bezahlen. In „Solidarity City“-Initiativen entwickeln sie Konzepte und Karten der Stadt etwa für Menschen ohne Papiere, damit die wissen, wo sie medizinische Versorgung, Bildung und Arbeit bekommen können. Sie wollen die Grenzen der vermeintlich natürlichen Geschlechter abschaffen und erst recht die von Europa. Sie sehnen sich nach dem, was Fisher sich so sehr wünschte: Nach einer Zukunft, die Veränderung bringt, die neugierig macht, einer Zukunft, die man gar nicht erwarten kann.
Foto: Jim Watson/AFP