Voguing war einst Widerstand. In Berlin feiert das Tanzen gegen Ausschluss und Unterdrückung jetzt sein Revival.
Frankfurter Allgemeine Quarterly 11
Juni 2019
Das Licht geht aus, der Beat setzt ein, und über der Bühne erscheinen zehn Gestalten, schillernde Mensch- Maschinen tanzen über eine Leinwand, räkeln, verwickeln, streicheln sich, ein Computer ruft mit tiefer Stimme „Welcome queer and trans people to the ‚House of Living Colors‘“, und eine Zuschauerin schreit „yes“, und andere schnalzen mit den Zungen. Noch einmal wird es dunkel, ein Klavier ertönt, und ein Spot strahlt auf Godxxx Noirphiles, die jetzt in der Mitte der Bühne steht, sie ist die „Mother“, die Mutter, des „House of Living Colors“ und trägt einen Blumenhut, einen Zylinder aus roten, rosa, blauen Blüten und einen Umhang aus Tüll, und auf ihren Wangen und über das Dekolleté schlängeln sich glitzernde Linien, Brust und Hüfte sind in pinkfarbenen Stoff gewickelt. Auf der Leinwand hinter ihr öffnet sich eine Knospe, und sie beginnt ganz langsam in ein Mikrofon zu singen: „Fuck me till I’m weak, fuck me till I sleep.“ Und die Menschen vor der Bühne johlen, und Godxxx Noirphiles singt weiter. „I want to be the one who makes you come.“ Und plötzlich bricht das Klavier ab, es bebt und schwingt aus den Boxen, und die Zuschauer, die Menschen, die heute Nacht in die Kantine des „Berghains“ in Berlin gekommen sind, fangen an, sich im Takt zu wiegen.
Dieser Ball hier ist kein strenges Voguing-Event, wie man es kennt aus der Netflix-Serie „Pose“, die gerade die Kritiker entzückt, doch steht die Show des „House of Living Colors“ paradigmatisch für eine Szene, die sich gerade in Deutschland entwickelt – und die genau das zum Ausdruck bringt, wofür die Ballroom-Szene einst entstand: Diejenigen, die nicht gleichermaßen teilhaben können an der Welt da draußen, die nicht die gleichen Chancen haben wie all jene, die immer schon reinpassten in die Norm, in die Ordnung, die schon herrschte – all diese vermeintlich anderen schaffen sich ihre eigene Welt, und das ist eine Welt, deren Reiz gerade nicht aus Normierung und Herrschaft besteht.
Voguing hat sich als Tanz-, aber auch als Lebensstil, als Teil der queeren Subkultur in den Siebzigern und Achtzigern in New York etabliert: Menschen, die rassistisch diskriminiert und von ihren biologischen Familien verstoßen wurden, weil sie schwul oder transgender waren, schlossen sich zu sogenannten „Häusern“ zusammen, zu neuen Familien, jeweils angeführt von einer „Mutter“, und traten auf Drag-Bällen in Harlem gegeneinander an – mit selbstgeschneiderten Kostümen und einem stilisierten Tanz, in den Modelposen, ägyptische Hieroglyphen, Elemente aus Martial-Arts-Filmen und dem Hiphop einflossen. „Voguing“ sollte heißen: Wir Schwarzen, Trans-Menschen und Queere, wir haben in eurer „Vogue“ keinen Platz, in eurer Vorstellung von Glamour kommen wir nicht vor – deshalb schaffen wir ihn uns selbst. Wir eignen uns euren Begriff und eure Gesten an, und zwar auf unsere eigene, viel spannendere Weise.
Als Madonna 1990 in ihrem Video zu „Vogue“ schließlich zwei der Tänzer aus der Ballroom-Szene engagierte, ahmten auch ein paar Leute in deutschen Diskotheken die exaltierten Posen nach. Sonst tat sich hierzulande aber nichts. Bis 2011 die Tänzerin Georgina Leo Melody, die das Voguing in New York gelernt hatte, in ihrer Heimatstadt Düsseldorf das „House of Melody“ gründete. 2012 zog sie nach Berlin, rief das „Voguing out Festival“ ins Leben und lud andere ein mitzumachen. Mittlerweile gibt es auch in Hamburg und Frankfurt „Häuser“, Tanzstudios bieten Voguing-Kurse an, manche in Kombination mit Yoga, was, so wird schon kritisiert, den politischen Charakter der Sache untergrabe. Das gilt wohl auch, wenn sich weiße Frauen mit Model-Körpern in glitzernde Kleider werfen und dann Noten für ihren „Walk“ bekommen, beinahe so, als liefen sie vor Heidi Klum – obwohl sie eigentlich beim Voguing sind.
Interessanterweise entwickelt sich aber gleichzeitig zu diesen ersten Anzeichen der Kommerzialisierung des Voguings in Deutschland gerade etwas Neues im Geist jener Gegenkultur, die diesen Tanz- und Lebensstil in New York einst entstehen ließ. Das hat mit der veränderten Zusammensetzung der Szene zu tun und mit dem politischen Klima, in dem sie sich entfaltet.
An dem Abend in der „Berghain“-Kantine in Berlin gibt es keine Noten. Aza betritt auf Highheels mit Plateau die Bühne, durch den langen Schleier schimmert der feingliedrige Körper, und ehe die Künstlerin die äußere Hülle abwirft, spreizt sie die Arme unter dem Tuch hervor in die Luft, mit jedem neuen Takt eine neue Bewegung, und das Publikum kreischt, als der Schleier Azas Gesicht entblößt, es glitzert blau, Kunstwimpern rahmen die großen Augen, und Aza öffnet die Haare, wirft sie in die Luft, in den Nebel auf der Bühne und das Licht. Hier kann sie „Femme“ sein, eine Performance, die nichts mit der Gender-Verortung einer Person zu tun hat, ein Begriff aus einer Welt, in der Geschlechter sich wandeln, mal im Lauf eines Lebens, mal von heute auf morgen – oder von einer Performance zur nächsten.
Aza ist queer, also nicht binär, wie die Künstlerin sagt, weder Mann noch Frau. Genauso wenig will sich Adrian einordnen, die „Mother“ von Aza, die als Godxxx Noirphiles aufgetreten ist. Adrian hat das „House of Living Colors“ 2018 gegründet, als erstes queeres Drag-House in Deutschland für Menschen, die nicht weiß sind. Die Berliner Drag-Szene sei ihr zu wenig migrantisch gewesen. Sie selbst ist von der amerikanischen Westküste nach Berlin gezogen. Wegen der Liebe hauptsächlich, und weil ihr Berlin spannender schien als Kalifornien.
Viele ihrer „Kinder“, Mitglieder ihres Hauses, hatten im Gegensatz zu ihr gar keine Wahl: Sie flohen hierher, weil es an den Orten, an denen sie aufwuchsen, gefährlich war, ihre Sexualität auszuleben; weil es dort weder Trans-Identität noch Homosexualität geben darf und queere Menschen dort bedroht werden. Wer aus welchem Land ist, soll hier nicht für alle einzeln stehen, darum hat Adrian aus Sicherheitsgründen gebeten. Wenn manche der Kinder derart gefährdet sind, sei es noch wichtiger, eine verantwortungsvolle Mutter zu sein, sagt sie.
Ähnlich äußert sich Arigato. Auch er ist eine Mutter. Letztes Jahr hat der 26-Jährige das „Kiki House of Arise“ gegründet und damit eine Gruppe geschaffen, die ebenso sehr wie das „House of Living Colors“ für die neue Bewegung in Berlin steht.
Vor fünfzehn Jahren floh er aus Angola nach Deutschland, brauchte und liebte das Tanzen von Anfang an, versuchte Hiphop und Breakdance. 2014 sah er dann die deutsche Pionierin Georgina Leo Melody auf der Bühne und wusste, wo er hinmusste. Seit zwei Jahren ist er Mitglied im „House of Melody“. Doch er wollte mehr: weitergeben, was ihm das Voguing selbst gegeben hatte. So gründete er „Future V“: Ein Tanzprojekt mit queeren Geflüchteten, aus dem heraus er schließlich das „Kiki House of Arise“ erschuf. Als „Kiki“ werden in New York seit ein paar Jahren jene Häuser bezeichnet, denen der Wettbewerb weniger wichtig ist, die mehr an die politischen Ursprünge des Voguings anknüpfen und Zuflucht für junge, schwarze Queere und Trans-Menschen bieten, die oft unter prekären Umständen leben und keinen Zugang zu den Institutionen der Stadt, zu Gesundheitsversorgung oder Schulen haben.
Arigato schafft ähnlich wie Adrian gerade für jene Menschen, die neu in Berlin ankommen, einen Raum, in dem sie sich entfalten können. „Wenn Menschen fliehen, weil sie queer sind, wenn sie ohne Familien in dieser Stadt stranden, sind sie oft total allein. Beim Voguing bekommen sie das Gefühl, geliebt zu werden“, sagt er.
Ein „Kind“ von Arigato und Adrian ist Dornika. Sie wurde Teil der beiden Häuser, nachdem sie aus Teheran nach Berlin gezogen war und erst einmal eine Depression hatte, wie sie im Internet unter das verwackelte Foto schreibt, auf dem Arigato und zwei andere aus seiner Gruppe zu sehen sind, mit Schminke und Glitzern in den Augen. „Das war der Abend nach meinem ersten Voguing-Kurs“, steht darunter. Das war der Abend, an dem sie endlich richtig ankam.
Am Abend bei der Veranstaltung des „House of Living Colors“ in der „Berghain“-Kantine steht sie auf der Bühne in einem neon-orangen Kleid, das mit jeder Bewegung nach oben weht und einen roten String aus mehreren Schnüren freilegt, und sie macht die typischen rhythmischen Armbewegungen des Voguings und kippt die Hüfte dazu, als wäre es für ein Shooting, für einen Fotografen, für die Welt da draußen. Plötzlich aber gibt es keine Regeln mehr, und sie beginnt zu zucken, zu springen und schleudert ihren Körper so schnell über die Bühne, dass kein Kameraauslöser mehr hinterherkäme.
So frei wie hier drinnen und wie bei anderen Voguing-Balls, ist es aber auch da draußen auf den Straßen Berlins nicht. Aza, die queere Künstlerin, die äußerlich in keine Geschlechterkategorie passt, sagt, wie fremd, verloren und sogar gefährdet sie sich oft fühle, wenn sie das Kostüm ausziehe, den Ballroom oder Adrians Wohnung, wo sie sich alle treffen, verlasse und auf die Straßen Berlins trete.
Viele sind nach Deutschland gekommen, nach Berlin, weil sie da, wo sie davor waren, nicht frei sein konnten – aber auch hier nimmt der Grad der Repression zu, der Menschen ausgesetzt sind, die nicht ins Bild der alten Ordnung passen.
Die Gesellschaften in Ländern wie Deutschland oder den Vereinigten Staaten sind in den letzten Jahrzehnten zwar viel inklusiver geworden, die Models in der „Vogue“ sind längst schwarz und trans – je vielfältiger die Identitäten, desto höher die Auflage. Aber die Integrationskraft auch der westlichen Gesellschaften hat ihre Grenzen: Das patriarchal-rassistische Ordnungssystem, das sich unter den Bekundungen von Liberalität und Diversität weiter behauptet, lässt sich nicht wegtanzen; sein Widerstand ist groß.
Die Zahl rechter Gewalttaten in Deutschland ist gestiegen, und dazu zählen rassistische und antisemitische Übergriffe genauso wie homophobe, queerund transfeindliche Angriffe. 2016 hat das Bundesamt für Verfassungsschutz 1600 solcher Taten registriert, mehr als doppelt so viele wie fünf Jahre zuvor. 2017 ging die Zahl zwar etwas zurück, brutale Übergriffe gegen einzelne Menschen aber nehmen weiter zu, wie die Beratungsstellen für Betroffene vermelden. In Aue wurde im vergangenen Jahr ein Mann von zwei Neonazis über mehrere Stunden mit Aluminiumstangen und Neonröhren misshandelt und schließlich zu Tode geprügelt, weil er schwul war. Eine Entwicklung, die bei der Mehrheit der Deutschen kaum für Empörung sorgt – deren Sorge gilt nach Umfragen stattdessen religiös motivierten Gewalttaten, die in Deutschland jedoch 16 mal seltener vorkommen als rechte Übergriffe.
Nicht nur Rechtsextreme wünschen sich eine alte, vermeintlich natürliche Ordnung zurück, eine Welt, in der ein Mann wieder „mannhaft“ (Björn Höcke) sein soll. Dass der „Gender-Wahn“ ein Ende habe, fordern auch der Papst und die Bestsellerautorin Birgit Kelle, und Sigmar Gabriel findet, die SPD habe sich zu lange mit Homosexuellen und anderen Multikulti-Fragen statt mit dem deutschen Arbeiter befasst. Aus der AfD kommen radikalere Töne wie von Andreas Wild, der für die AfD im Berliner Abgeordnetenhaus im Integrationsausschuss sitzt und fordert, dass Einwanderung künftig wieder durch „den Geburtskanal deutscher Frauen“ stattfinde – womit Wild auf den Punkt bringt, wie sich Sexismus und Rassismus miteinander verbinden.
Arigato kennt beides, auch wenn er „nur einmal“, wie er sagt, von Nazis verfolgt wurde. Dass er hier nicht wirklich ankommen soll, haben ihm auch die Behörden schon immer klargemacht. Seit mehr als zehn Jahren hat er den Status „geduldet“. Er muss immer noch regelmäßig zur Ausländerbehörde, um seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern. Obwohl er eigentlich schon für den deutschen Staat gearbeitet hat: Die Gelder für „Future V“, sein Tanzprojekt mit anderen queeren Geflüchteten, kamen aus einem Etat der Bundesregierung. Jener Bundesregierung, die gerade in einer nächsten Asylrechtsverschärfung plant, Menschen, deren Schutzgesuch sie ablehnt, auf unbestimmte Zeit in Gefängnissen wie Straftäter zu halten.
Dass der gegenwärtige Erfolg des Rechtspopulismus eine Reaktion darauf ist, dass die patriarchal-rassistischen Ordnungen tatsächlich schwanken, dass sie immer umkämpfter werden, das glaubt auch Adrian; in Deutschland sei das so und dort, wo sie aufgewachsen ist, in den Vereinigten Staaten ebenfalls. An Orten wie hier in Berlin entfalte sich das Neue bereits: Eine queere Drag-Szene von Menschen aller Hautfarben, die lange genug als anders, als fremd markiert wurden oder gar nicht sichtbar waren und sich jetzt ihren Raum nehmen und füreinander erschaffen. Dieses Neue lässt sich vielleicht nicht mehr als Gegenkultur jener Art verstehen, die das Voguing ursprünglich darstellte, weil es wohl gar keine solchen Gegenkulturen mehr geben kann, in einer Zeit, in der Netflix mit einer Serie übers Voguing seine Gewinne macht. Aber die Umarmungsversuche des Mainstreams ändern nichts daran, dass sich in den Räumen, die Arigato und Adrian gemeinsam mit ihren Häusern erschaffen, neue Formen der Geborgenheit entwickeln, die sich der Verwertbarkeit entziehen, Formen der Zärtlichkeit, der Bewegung und der Freude. Vielleicht zeigt sich in den Familien, die sich hier zusammengeschlossen haben, die immer offen sind für neue Mitglieder, die sich immer wieder neu zusammensetzen und neu zusammen tanzen, vielleicht zeigt sich darin ein Umgang miteinander, der für alle ein Gewinn wäre.
Bei den Workshops etwa, die Georgina Leo Melody und ihre „Kinder“ seit ein paar Jahren anbieten, dürfen alle mitmachen, auch „heterosexuelle Cis-Männer ohne Migrationshintergrund“, wie sie sagt. (Cis ist im Gegensatz zu trans die Bezeichnung für Menschen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde.) „Solange sie respektieren, dass der Space vor allem denen dient, die ihn sonst nicht haben“, so Georgina. Sie selbst sei auch hetero und cis und würde anerkennen, dass sie weniger zu kämpfen habe als manche ihrer „Kinder“. Aus dem Austausch lerne sie. Genau wie die Leute, die in die Workshops kämen: „Und dort zum Teil erst verstehen, was Homophobie und Rassismus für andere bedeuten – und das dann auch in ihre weißen Cis-Freundeskreise tragen können und so für mehr Solidarität sorgen.“
Beim Workshop, den das „House of Melody“ an einem Sonntag im Studio Motion in Berlin am Moritzplatz veranstaltet, erzählt sie den zwanzig Interessierten, die alle Körperformen und -farben haben, von den Ursprüngen des Voguings, bevor Arigato das Warm-up übernimmt. Als er damit fertig ist, tauscht er Jogginghose, Sneakers und sein Muskelhirt gegen eine bunte Leggins und Overknee-Stiefel mit hohen Absätzen. Seit er sein eigenes Haus hat und damit selbst Mutter ist, Mother LaQuéfa, kann er auch mehr „Femme“ sein, wie er sagt.
Letztes Jahr trat er das erste Mal so auf, beim ersten Ball, den er mit seinem Haus veranstaltete, und es waren so viele Leute in den kleinen Laden gekommen, dass kaum Platz für einen Laufsteg zwischen ihnen blieb. Aber als Mother LaQuéfa nach vorn stolzierte in einer Bluse aus rotem Latex, die bis unter die Brust nach oben gebunden war, in roten Hotpants und Highheels im Leopardenprint, machten die Menschen sofort Platz. Und sie ging in die Hocke und schleuderte die Füße mit jedem neuen Takt nach vorn, in jenem Gang, der sich in der Sprache des Voguings Entengang nennt, der bei Mother LaQuéfa aber nicht nach Watscheln aussah, sondern so geschmeidig, als würde sie im Sitzen fliegen. Genauso flogen ihre langen Haare, die roten Extensions hinter ihr in der Luft. Und dann sprang sie selbst auch schon wieder auf, der Beat wurde schneller und ihre Bewegungen zackig, mit gebeugten Knien schmiss sie den Hintern nach links, nach rechts und die Arme in die Luft. Und ihre „Kinder“ standen vorn im Publikum und jubelten.