WOZ
November 2024
Die Zeit drängt. Der CDU-Abgeordnete Marco Wanderwitz und seine Mitstreiter:innen aus anderen Parteien kämpfen seit Monaten für eine Mehrheit im Bundestag, um das Verfassungsgericht mit der Prüfung eines AfD-Verbots zu beauftragen. Ob sich genug Parlamentarier:innen anschliessen, ist immer noch unklar – den Antrag eingereicht haben sie nun trotzdem: In den nächsten zwei Wochen wird abgestimmt. Sollte die AfD nach der vorgezogenen Neuwahl im Februar noch stärker im Bundestag vertreten sein, stünden die Chancen noch schlechter. «Das Zeitfenster, den Faschismus in Deutschland aufzuhalten, schliesst sich rasant», sagt Wanderwitz.
Genau dafür – zur Abwendung einer faschistischen Gefahr – wurde im Grundgesetz die Möglichkeit des Parteiverbots verankert: Nie wieder sollte eine Partei an die Macht kommen, die dann die Demokratie abschafft. Das Verfassungsgericht kann eine Partei dann verbieten, wenn sie die «freiheitlich-demokratische Grundordnung» angreift und «wirkmächtig» ist. Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung müssen die Richter:innen in Karlsruhe mit der Prüfung dieser Kriterien beauftragen. Das hat bislang keine der drei Instanzen getan.
Offenkundige Radikalisierung
Vielen scheinen die juristischen Hürden zu hoch. Quer durch alle Parteien fürchten Abgeordnete zudem, ein Verfahren könnte die AfD gar stärken. Schliesslich würde sie sich mit dem Siegel der Verfassungsmässigkeit brüsten können, falls das Gericht ihr nicht das Gegenteil nachweist. Hinzu kommt, dass sie sich allein schon im Lauf des Prozesses als Opfer des «Establishments» inszenieren könnte.
Doch das macht sie ohnehin. Und auch die Sorgen, das Verfahren könnte juristisch nicht gelingen, lassen sich entkräften.
2017 scheiterte ein Verbot der NPD, weil die Partei nicht in der Lage schien, ihre Ziele überhaupt umzusetzen. Das lässt sich von der AfD kaum sagen. Schliesslich regiert sie in immer mehr Gemeinden, gerade in Ostdeutschland. Und sie verschiebt die Politik der anderen Parteien – vor allem in Fragen der Migration – seit Jahren nach rechts.
Auch ihre Radikalisierung ist mittlerweile offenkundig: Im Januar wurde bekannt, dass AfD-Abgeordnete gemeinsam mit der rechtsradikalen «Identitären Bewegung» in Potsdam Pläne für Massendeportationen entwickelten. Eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete sitzt in Haft, weil sie Teil der Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuss war, die den Bundestag stürmen wollte. Der sächsische Schatzmeister der AfD-Jugend wiederum wurde gerade als Mitglied der Terrororganisation Sächsische Separatisten verhaftet.
Umsturzpläne, wie sie die einzelnen Terrorgruppen verfolgten, kann man der AfD im Gesamten nicht nachweisen. In einem anderen Punkt lässt sich der Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung allerdings belegen: Die AfD verstösst gegen die Menschenwürde, die neben der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit eine der drei Säulen dieser Ordnung ist. Das haben mehrere juristische Gutachten gezeigt. Auf die verweisen auch linke Unterstützer:innen eines Verbotsverfahrens wie etwa die Abgeordnete Martina Renner (Die Linke); sie zeigen damit, dass sich der Diskurs führen lässt, ohne einem inhaltsleeren staatstragenden Extremismusbegriff das Wort zu reden.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte wies beispielsweise anhand von Wahlprogrammen und Aussagen von Spitzenpolitiker:innen nach, dass die AfD das Volk nicht über das rechtliche Kriterium der Staatsbürgerschaft, sondern über rassistische Kriterien bestimmt und damit das Gebot der Menschenwürde angreift: In einem Konzept zur Sozialpolitik heisst es etwa, dass Rentenzahlungen nur an jene gehen sollen, die «dem deutschen Volke» angehören, wozu hiernach nicht alle zählen, die einen deutschen Pass haben.
Der Bundes- und Fraktionsvorsitzende Tino Chrupalla nutzt den NS-Begriff «Umvolkung». Und der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland spricht von «Bevölkerungsaustausch», gegen den man sich wenden müsse, er schlug gar die «Entsorgung» unliebsamer Deutscher mit türkischem Hintergrund vor. Auch die Parteivorsitzende Alice Weidel forderte Ausschaffungen deutscher Bürger:innen. Im Mai hat das Oberverwaltungsgericht Münster die Einstufung der AfD als «rechtsextremen Verdachtsfall» bestätigt.
Trotzdem äussern viele Abgeordnete, insbesondere aus den Reihen der Grünen, noch immer Bedenken, ob die Beweise ausreichen. «Es ist nicht unsere Aufgabe, das zu entscheiden», entgegnet CDU-Politiker Wanderwitz. «Wir haben die Verantwortung, Karlsruhe mit einer Prüfung zu beauftragen.»
Seit Juni kämpft auch das Bündnis «AfD-Verbot jetzt» dafür, dass der Bundestag Karlsruhe grünes Licht gibt. Die Zweifel an der Beweislage hält Sprecherin Julia Dück für vorgeschoben. «Den Auftrag nicht zu erteilen, ist eine politische Entscheidung», sagt sie. Den Anstoss für ihre Kampagne hatten die Veröffentlichungen über die Deportationspläne der AfD sowie die anschliessenden Proteste gegeben: Juristinnen, Gewerkschaftsmitglieder, Klimaschützer schlossen sich zu einer Allianz zusammen. Seither organisieren sie Veranstaltungen und betreiben ein Onlineportal mit Informationen zum Verfahren. Im Oktober wurde ausserdem eine der grössten Petitionen in der Geschichte der Bundesrepublik ans Parlament übergeben: 857 000 Menschen sprechen sich darin für ein Verbotsverfahren aus.
Auf diese Initiativen muss man verweisen, wenn Kritiker:innen des Vorstosses davor warnen, AfD-Wähler:innen zu delegitimieren. Warum soll man diese wichtiger nehmen als all die Menschen, die Angst vor der Partei haben?
Überall, wo die AfD bereits regiert, macht sie emanzipatorische Errungenschaften rückgängig. Der Stadtrat von Bautzen in Sachsen etwa hat in der neuen Legislatur neben der Absetzung der Integrationsbeauftragten sogleich die komplette Auflösung des Amtes beschlossen. Die AfD greift Antidiskriminierungsstellen und Programme zur Förderung der Akzeptanz von sexueller Vielfalt an. In der Opposition nutzt sie Kleine Anfragen im Parlament, um die Förderung von Initiativen gegen rechts und von Kulturprojekten – gerade auf dem Land – zu delegitimieren.
Gegner:innen zermürben
Über Social Media erreicht die AfD mit ihrer Hetze indes viele junge Menschen, nicht nur im Osten. Bei den Landtagswahlen in Bayern wählten sie achtzehn Prozent der unter Dreissigjährigen, in Hessen waren es siebzehn. Beratungsstellen berichten zunehmend von rechten Jugendgruppen, die alle bedrohen, die nicht in ihr Weltbild passen. Für mehrere Orte in Deutschland hat die Partei zudem digitale Meldeportale eingerichtet, mit denen Schüler:innen vermeintlich «links-grün-versiffte» Lehrer:innen denunzieren können. Die AfD setzt auf die Zermürbung politischer Gegner:innen. Marco Wanderwitz etwa wird nicht noch einmal für den Bundestag kandidieren – um seine Familie zu schützen.
Der neue Faschismus zeigt sich nicht in uniformierten Aufmärschen im Stil der 1930er Jahre. Die allmähliche autoritäre Formierung ist vielmehr die Gefahr. 2018 sagte der damalige Vorsitzende Alexander Gauland, seine Partei versuche, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten. Und das mit Erfolg: Die Menschen gewöhnen sich (wieder) zunehmend an die völkisch-nationalen Positionen. Diese Strategie kombiniert die AfD damit, Kritik an ihr als «antidemokratisch» zu delegitimieren. Die Basler Soziologin Franziska Schutzbach fasst diese Rhetorik so zusammen: «Der alte Rechte sagt: ‹Ausländer raus.› Der neue Rechte fügt hinzu: ‹Wenn wir das nicht mehr sagen dürfen, ist die Demokratie in Gefahr.›»
Die Medien spielen mit
Das Narrativ, linke, feministische und antirassistische Aktivist:innen würden andere zensieren, greifen auch liberale Journalist:innen auf. Oft mit der Konsequenz, den Rechten mehr Platz einzuräumen. Am Morgen nach der Wiederwahl Donald Trumps interviewte der Deutschlandfunk etwa die AfD-Vorsitzende Alice Weidel zur Analyse des Ergebnisses. Politiker:innen der etablierten Parteien kommen den Forderungen der AfD ebenfalls nach. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion etwa würde gern Leistungen für Asylsuchende kürzen. «Wir müssen aufpassen, nicht permanent die Narrative der AfD aufzugreifen. Das schadet uns allen», warnt CDU-Politiker Wanderwitz.
Sollte der Auftrag zur Prüfung nach Karlsruhe gehen, böte sich die Chance auf einen Kurswechsel im Umgang mit der AfD. Ihre Amtsträger:innen gerieten zunehmend unter Druck; mancherorts würden sich Menschen womöglich wieder trauen, etwas gegen die Partei zu sagen. Falls es zum Verbot käme, wäre die AfD als Verein aufgelöst. Ihr Vermögen würde eingezogen, alle Mandate fielen weg. Ihre digitalen Kanäle wären dicht. Die ehemaligen Mitglieder könnten sich nicht einfach neu zusammenschliessen.
Bis es zu einer Neugründung verbotener Parteien kam, etwa der Sozialistischen Reichspartei als NPD 1964 und der KPD als DKP 1968, dauerte es jeweils mehr als zehn Jahre. Solch eine Atempause liesse sich nutzen, um völkisches Denken und dessen Nährboden zu bekämpfen.