bertz + fischer
Januar 2021

In der Woche vor Ostern 2020 gingen in Berlin 332 Notrufe wegen häuslicher Gewalt ein, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. In China, wo die Ausgangssperre wegen Corona strenger war als hier, verdreifachten sich die Fälle. In Mexiko verzeichnete die Organisation México Evalúa im März 60 Mal so viele Gewalttaten gegen Frauen wie in den Monaten zuvor. 163 Frauen wurden dort während der Zeit der Quarantäne ermordet. In Chile stieg die Zahl der Anrufe bei Frauen-Hotlines auch in den wohlhabenden Vierteln der Hauptstadt, wie in Providencia, um 500 Prozent. In Spanien kontaktierten während des Lockdowns 700 Mal so viele Frauen wie sonst Anlaufstellen für Opfer häuslicher Gewalt. In Paris stieg die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen innerhalb von zwei Wochen um 36 Prozent –und das sind nur die offiziellen Angaben. Viele Anlaufstellen befürchteten, die Opfer könnten sich während des Lockdowns nicht mehr melden, weil ihre gewalttätigen Partner permanent in ihrer Nähe seien. Wie oft Frauen in heterosexuellen Beziehungen also in den Monaten der Corona-Hochphase zu Hause tatsächlich geschlagen, geschubst oder zum Sex gedrängt wurden, ist unklar, hier und an allen andren Orten patriarchaler Herrschaft.

Patriarchaler Herrschaft? Weder in Deutschland noch in Italien oder in China gibt es das Patriarchat noch im juristischen Sinne. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Doch hält sich die Männerherrschaft im Alltag, im Denken der Menschen und in ihrem Handeln –und das offenbarte die Corona-Krise einmal mehr.

Es heißt, in Krisenzeiten zeigen sich Probleme wie unter dem Brennglas. Angesichts der COVID-19-Epidemie und der politischen Maßnahmen wurde erstens die grundlegende nationalistische Ausrichtung der deutschen Politik deutlicher als zuvor sichtbar (wie schnell Grenzen hochgezogen werden, wer zur vermeintlichen Solidargemeinschaft gehört) und zweitens die patriarchale Grundstruktur unserer Gesellschaft.

Es geriet ins allgemeine Blickfeld, was Feminist*innen schon lange anprangern: Dass all die Berufe, in denen sich Menschen um andere kümmern, sie versorgen, pflegen und erziehen, nicht angemessen vergütet werden. Und dass in diesen Berufen vor allem Frauen arbeiten. Der zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung zeigte schon 2017, dass Frauen 87 Prozent des Personals in Pflegediensten und 85 Prozent des Personals in Pflegeheimen stellen. Ähnlich sah es in der Kindererziehung und -betreuung aus. Dringend wurde schon da die Aufwertung der Sorge- und Reproduktionsarbeit angemahnt.

Der Bericht der Bundesregierung zeigte auch, dass jene Arbeit unbezahlt zu Hause immer noch patriarchal verteilt ist. Schichtübergreifend sind es in heterosexuellen Paar- und Familienhaushalten – also in jenen privaten Räumen, die immer noch und gerade in Corona-Zeiten als normale und ideale Basis des Zusammenlebens präsentiert werden –die Frauen, die im Durchschnitt das Wäschewaschen, die Kindererziehung und die Pflege der Alten übernehmen. Erwachsene Frauen in Deutschland verrichten täglich 87 Minuten mehr Care-Arbeit als Männer, sie wenden also immer noch gut anderthalbmal so viel Zeit für unbezahlte Betreuungs- und Hausarbeit auf. Am krassesten ist der Unterschied in heterosexuellen Paarhaushalten mit Kindern, also in der Kleinfamilie. Dort übernehmen selbst dann die Frauen im Schnitt zu Hause noch nebenbei all die unbezahlten Aufgaben, wenn sie deutlich mehr verdienen als ihre Partner, wenn sie also Haupternährerinnen sind und Vollzeit arbeiten – wie Sarah Speck und Cornelia Koppetsch in ihrer Studie Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist vor fünf Jahren zeigten.

Das Ergebnis einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin zur Zufriedenheit der Menschen mit der Arbeitssituation im Homeoffice während des Lockdowns, als die Kitas und Schulen geschlossen hatten, überraschte da nun wenig: Frauen waren unzufriedener als Männer. Genauso wenig erstaunlich war die Tatsache, dass etwa Herausgeber*innen wissenschaftlicher Zeitschriften vermeldeten, Einreichungen von Männern seien in den Wochen des Lockdowns um 50 Prozent gestiegen, während Wissenschaftlerinnen quasi überhaupt keine Texte mehr vorlegten. Letztere waren wohl zu Hause mit den Kindern beschäftigt – egal in welchem Fach sie sich habilitiert haben. Männer hingegen dachten wohl eher, sie müssten anderen gleich wieder die Welt erklären. Wozu sie schließlich permanent angeregt werden angesichts der Vorbilder überall: Auch in der Arbeitsgruppe der Leopoldina, die für die Bundesregierung das wichtigste Corona-Gutachten vorlegte, waren unter den 26 Expert*innen nur zwei Menschen, die als Frauen gelten.

Die meisten Frauen mit Kindern hatten während Corona keine Sekunde mehr für ihre Arbeit oder sich selbst, erst recht nicht diejenigen, die alleinerziehend sind. Kinder bleiben in neun von zehn Fällen nach der Trennung der Eltern bei der Mutter. Wenn diese Alleinerziehenden ihren Job neben der permanenten Kinderbetreuung nicht mehr erledigen konnten, wenn sie etwa arbeitslos wurden –wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zeigte, wurde Frauen während der Krise deutlich häufiger gekündigt als Männern –, bestätigten sie nur weiter die Statistik: Von (Alters-)Armut waren sie sowieso schon stärker bedroht. Im Jahr 2015 bekamen Frauen eine um 53 Prozent niedrigere Rente als Männer.

All diese patriarchalen Phänomene sind nicht »der Natur« der Geschlechter zuzuschreiben, sondern der Art, wie die Menschen noch immer von klein auf zu Männern und zu Frauen gemacht werden, wie sie in zwei Gruppen aufgeteilt werden, die sich vermeintlich von Natur aus unterscheiden. Sogar das Gesetz ist weiter und erkennt an, dass es mindestens eine dritte Option braucht. Und progressive Mediziner*innen weisen nach, dass es ein vielfältiges Spektrum von Geschlechtswahrnehmung und sexueller Orientierung gibt und nicht einfach »Frauen« und »Männer«. Und trotzdem basiert unser Zusammenleben noch auf dieser binären Ordnung, trotzdem denken wir noch immer in diesen Kategorien –als wären sie gottgegeben.

Dabei ist das strikt binäre Denken von Geschlecht ein junges Phänomen, das aber eben unseren ganzen Gesellschaftsentwurf prägte: den der bürgerlichen Gesellschaft. Erst während deren Entstehung ab Ende des 18. Jahrhunderts etablierte sich ein rigides Verständnis von Zweigeschlechtlichkeit, das dann auch Formen der sexistischen Arbeitsteilung legitimierte, das eine exklusive, heterosexuelle Zweierbeziehung als natürlich erscheinen ließ und die Idee der Kleinfamilie gesamtgesellschaftlich zum Ideal machte. Die bürgerliche Familienform trennte fortan Produktion und Reproduktion, schrieb Frauen zu, die Arbeit zu Hause, die Reproduktionsarbeit (Kochen, Putzen, Waschen, Kinder) aus Liebe zu verrichten, sie »von Haus« aus besser zu können, während die meisten Männer sich nun außer Haus betätigten und ausbeuten lassen sollten –ihre Ehefrauen durften sie kompensatorisch wie ihren Besitz und ihre Bediensteten zugleich behandeln, Frauen hatten zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft weder das Recht zu wählen noch etwas ihr Eigen zu nennen.

Die (Arbeits-)Verhältnisse wandelten sich zwar im Lauf des letzten Jahrhunderts radikal, und so konnten Frauen schließlich sogar Kanzlerin werden, während neoliberale Gleichstellungspolitik Frauen-Quoten in Aufsichtsräten durchsetzte. Doch wenn eine Frau etwa in den frühen nuller Jahren als Managerin Karriere machen wollte, musste sie nicht nur außergewöhnlich leistungsstark und konkurrenzfähig sein, sondern diese vermeintlich männlichen Eigenschaften immer noch damit kompensieren, wiederum besondere Eleganz und Sexappeal vorzuweisen, und auf jeden Fall auch noch Kinder kriegen. Sonst galt sie, so hat es Angela McRobbie in ihrem Buch Top Girls analysiert, als »Mannsweib« oder »Emanze« – was als Schimpfwort gedacht war. (Jungen) Frauen war dank der Erfolge der zweiten Welle des Feminismus ein besserer Zugang zu bestimmten Freiheiten und Möglichkeiten eingeräumt worden. Die konnten sie allerdings nur unter der Voraussetzung nutzen, dass sie sich von eben jenen alten, radikalen Feminist*innen distanzierten und das Patriarchat für beendet erklärten. Dieser Postfeminismus passte zur neoliberalen Agenda, die zeitgleich, ab den 1980er Jahren, immer mehr Menschen vermittelte, strukturelle Diskriminierung gäbe es kaum mehr in den liberalen Gesellschaften. Schließlich könnte jede Chefin werden. Während die Mehrheit der Gesellschaft die Gleichberechtigung der Geschlechter also aufgrund formal gleicher Rechte für verwirklicht hielt, konnte ein Bild der Frau als Objekt, das dem Mann gefallen müsse, bestehen bleiben und sich damit sogar verstärken.

Immer noch werden diejenigen, die als Mädchen gelten, nach dem Bild der Hausfrau geschaffen, und diejenigen, die als Jungen eingeordnet sind, entsprechend nach ihrem Gegenbild, dem Außerhausmann. Sogar das Spielzeug vermittelt den Kleinsten noch, sie seien zwei Arten von Mensch, der eine von Natur aus für die Herausforderungen draußen gemacht, die andere fürs Private, für die unwichtigeren Dinge. Das Mädchen-Accessoire der nuller Jahre, Prinzessin Lillifee, stand schließlich schlechthin dafür, und das Abbild dieser Puppe findet sich auch 20 Jahre später in jedem Kindergeschäft: niedlich, roter Kussmund, Wespentaille, pudert sich gern die Nase und backt Kuchen.

Die Art, wie kapitalistische und patriarchale Muster noch heute zusammenwirken, erklärt sich weiter, wenn man den nationalistischen Geist berücksichtigt, der sie allzu gut zusammenhält. Immer noch ist die patriarchal organisierte Kleinfamilie die Keimzelle der Nation. Was sich besonders in den rechten, antifeministischen Mobilisierungen der letzten Jahre ausdrückt. Auf dem Wahlplakat der AfD etwa wiegte eine Frau ein Baby im Arm. Diejenigen, die als Frauen gelten, sollen das deutsche Volk und sein Bruttosozialprodukt reproduzieren und deshalb Kinder kriegen. In den Träumen der Rechten wird jene Form perfektioniert, die fortwährend gesellschaftliches Ideal ist.
Das binäre, heteronormative und hierarchische Geschlechterverhältnis ist noch immer in unseren Staat eingeschrieben, der jenseits von Corona die patriarchal organisierte Kleinfamilie etwa mit dem »Ehegattensplitting« stärkt und sich im Lockdown dann eben darauf verließ, dass all die Hausfrauen, die er voraussetzt, den Laden zusammenhalten, dass sie verfügbar sind, sich der Familie, dem Mann und seinem Wohle widmen.

Die fehlende gesellschaftliche Wertschätzung der Sorgearbeit und die Gewalt gegen Frauen und andere Geschlechtsidentitäten sind Ergebnisse des gleichen Problems: Alles, was »weiblich« konnotiert ist, Einfühlungsvermögen und Fürsorglichkeit etwa, wird in kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaften abgewertet.

Eine weitere Konsequenz dessen, dass die Kleinfamilie immer noch als natürliche Lebensweise verklärt wird, ist die Diskriminierung aller anderen Lebensformen, die sich ebenfalls in Corona-Zeiten zuspitzte. Eine Diskriminierung, die ebenfalls speziell all jene Menschen betrifft, die in der patriarchalen Ordnung nicht an erster Stelle kommen. Cis-Männer dürfen schließlich alleine altern, wenn sie das wollen, oder sich austoben und Beziehungen wechseln, ohne schief angeschaut zu werden. Diejenigen, die als Frauen gelten, werden in unserer Gesellschaft dagegen mit Anfang 30 gefragt, wann sie Kinder wollen, und wenn sie mit Ende 30 noch keine haben, schauen die Verwandten besorgt. Besorgt schaut man auch auf schwule Paare oder gar Trios und Quartetts mit Kindern. Und denen, die sich nicht in die binäre Matrix pressen lassen, wird sowieso Verantwortungsvermögen abgesprochen. Die symbolische Diskriminierung schlägt sich in der rechtlichen und in der ökonomischen Schlechterstellung aller nieder, die nicht nach der Kleinfamilien-Norm leben. Wohngemeinschaften oder Freund*innenkreise können etwa kein »Ehegattensplitting« beanspruchen. Kündigungsschutz gilt für verheiratete Menschen eher als für jene, die auf dem Papier alleinstehend sind –eine Heirat wird eben noch immer als Basis für die Kleinfamilie, für die Produktion künftiger deutscher Arbeitskräfte gewertet. Und wenn man in der Suchmaschine »Singles« und »Corona« eingab, erschien als Vorschlag gleich das Wort »einsam« dazu. Es gibt andere Wege, zusammenzuleben: solidarischere Lebensweisen für alle, solidarischere Formen, Gesellschaft zu organisieren, wie sie die feministischen Kämpfe der letzten Jahre immer lauter fordern.

Und das macht schließlich trotz der bislang beschriebenen Verschärfung der patriarchalen Zustände Hoffnung: dass diese Krise auf eine neue Generation von Feminist*innen trifft, die weltweit bereits vor Corona in neuem Ausmaß aufbegehrten. Die sich seit einigen Jahren transnational vernetzen und die Zusammenhänge von Patriarchat, Kapitalismus und Nationalismus wie keine feministische Welle zuvor in ihrer Verwobenheit angreifen. Diese neue globale queerfeministische Bewegung fand gleichermaßen Antrieb und Ausdruck in #metoo, aber auch in den Protesten um #niunamenos. Letztere richteten sich zunächst in Mexiko gegen die krasseste Form patriarchaler Gewalt, gegen Femizide, und erfassten dann als antipatriarchale Demonstrationen ganz Amerika und schließlich Europa. In Rom etwa brachte Non Una Di Meno gleich zur ersten Demonstration 250.000 Menschen auf die Straße. In den Vereinigten Staaten von Amerika gingen am Frauenkampftag 2017 über zwei Millionen Menschen unter dem Slogan A Day without Women demonstrieren. In Europa wuchs der Frauenstreik zum 8. März ebenso an, Spanien brach 2018 den Rekord: »Wenn wir streiken, steht die Welt still«, riefen über fünf Millionen Frauen und Queers und legten die Arbeit nieder, um auf patriarchale Ausbeutung und Abwertung in der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft aufmerksam zu machen.

Die Aufbruchsstimmung, die sie verbreiten, ist nicht verflogen. Viele sprechen vom patriarchalen Backlash, den Corona bedingt habe, davon, dass der Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter um Jahrzehnte zurückgeworfen sei. Doch die Tatsache, dass die Notwendigkeit des queerfeministischen Kampfes nun während der Pandemie noch deutlicher wurde, kann ihn nur stärken.