bertz + fischer
Januar 2021

Schweinfurt: Die ersten Corona-Fälle im Ankerzentrum wurden Mitte März bekannt. Ein 60-jähriger Armenier hatte Vorerkrankungen, brauchte besonderen Schutz, man verlegte ihn in ein anderes Gebäude innerhalb des Lagers. Dort schlief er weiterhin im Mehrbettzimmer, das Virus befiel ihn. Am 21. April starb er im Krankenhaus.

München: In einer staatlichen Gemeinschaftsunterkunft steckte sich ein 35-jähriger Mann aus Afghanistan Anfang April bei einem Mitbewohner an. Er klagte über Kopfschmerzen, Halsweh und Fieber, getestet wurde er vier Tage später. Sein Zustand verschlimmerte sich, es vergingen weitere Tage, bevor er ins Krankenhaus kam. Dort starb er am 26. April. Dem IS war er entkommen, in Bayern dem Coronavirus erlegen.

Norddeutschland: Ein 80-jähriger Mann aus Afghanistan starb Anfang Mai an den Folgen von Corona. Nach Jahren des Kriegs und der Flucht hatte er sich auf einen friedlichen Lebensabend gefreut. Bis ein Mitbewohner in der Flüchtlingsunterkunft fast seine gesamte Familie ansteckte. Der Fall wurde von den Behörden verschwiegen — um den Informanten zu schützen, wird der Ort nicht genannt.

Wie viele weitere Menschen sind gestorben, nachdem sie sich in den deutschen Flüchtlingsunterkünften mit Corona infizierten? Und: Hätten diese Tode verhindert werden können, wenn die gängigen Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus auch denen ermöglicht worden wären, die hierher geflohen sind vor Krieg, Armut und Verfolgung? Wenn sie gleichermaßen vor dem Virus geschützt worden wären wie die deutsche Bevölkerung? Am Umgang mit Asylsuchenden in Zeiten von Corona zeigt sich erneut, dass Menschenleben nicht gleich viel wert sind — das zeigt sich nicht nur an der katastrophalen Lage von Geflüchteten in den Lagern an den Außengrenzen, im Mittelmeer und auf der Balkanroute. Es zeigt sich in fast allen Unterkünften in Deutschland. Dabei offenbart sich außerdem, wie sehr die Devise der Abschreckung die Asylrechtsreformen der letzten Jahre leitet und damit den Umgang mit Schutzsuchenden hierzulande immer mehr prägt.

Die erste COVID-19-Erkrankung in einer Geflüchteteneinrichtung wurde am 11. März aus Heidelberg gemeldet. Allein in den Unterkünften, die der Bund betreibt, waren zwei Monate später über 500 Menschen mit Corona infiziert, wie das Bundesinnenministerium mitteilte. Die Dunkelziffer lag da schon viel höher, erst recht, wenn man all die Heime mit einbezieht, die private Unternehmen, Kommunen und gemeinnützige Organisationen leiten. Mitte Juni gab das bayerische Innenministerium die offizielle Zahl derer an, die in allen landeseigenen Geflüchtetenunterkünften positiv getestet wurden: 1.333 von insgesamt 27.000 Menschen. Das heißt: In Bayern infizierten sich fast fünf Prozent der Asylsuchenden mit Corona. Zum Vergleich: In der restlichen Bevölkerung Bayerns lag der Anteil der Infizierten bis Mitte Juni unter 0,4 Prozent.

Dass nicht nur im Lager Moria auf Lesbos, sondern auch hierzulande die Gefahr von Massenansteckung in Flüchtlingsunterkünften drohe, schrieben Flüchtlingsräte und Mediziner*innen schon Anfang März. Sie forderten, dass die Menschen in leer stehenden Hotels untergebracht würden, dass man zumindest die Risikogruppen aus den Lagern hole und dass wiederum diejenigen, die positiv getestet wurden, etwa in Ferienwohnungen kleine Quarantänegruppen bilden sollten. Dass sie unbedingt aus den Erstaufnahmen evakuiert werden müssten, in denen durchschnittlich zwischen 500 und 1.000 Menschen leben.

Erstaufnahmeeinrichtung heißen die Unterkünfte, in die Asylsuchende gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland gesteckt werden. Diese Unterkünfte sind so, wie der Name klingt: Provisorien, in denen man nicht bleiben kann, in denen Bett an Bett steht oder Container an Container, in denen Duschzeiten vorgegeben sind und die Zeiten für die Essensausgabe. In denen die Menschen ursprünglich maximal für ein paar Tage bleiben sollten, bis zu ihrem Umzug in eine Gemeinschaftsunterkunft, welche wiederum im Schnitt ein bisschen mehr Rückzug bietet. Doch die Asylrechtsverschärfungen der letzten Jahre erlauben, Menschen bis zu 18 Monaten in den Lagern der Erstaufnahme festzuhalten, die in einigen Ländern als AnkER-Einrichtungen bezeichnet werden. So sehr sich die Standards in ganz Deutschland von Einrichtung zu Einrichtung unterscheiden: In allen Erstaufnahmen sind die Menschen ohne Intimsphäre auf engstem Raum zusammengepfercht. Die meisten Zimmer sind nicht abschließbar, immer wieder kommt es zu Zimmerdurchsuchungen. Die Bewohner*innen bekommen kaum medizinische Versorgung, Sport- oder Spielmöglichkeiten sind nicht geboten, erst recht nicht in Unterkünften, die fernab von Wohngebieten liegen, wo maximal ein paar Nazis vorbeikommen.

Das Kinderhilfswerk Terre des Hommes veröffentlichte im Juni eine umfassende Recherche, die belegt, was Flüchtlingsräte schon seit Langem skandalisieren: Die zentrale Massenunterbringung macht die Menschen krank, erst recht minderjährige, oft bereits traumatisierte Geflüchtete — und das ist die Hälfte: 50 Prozent der Asylsuchenden in Deutschland sind unter 18 Jahre alt. Von 2015 bis 2020 analysierte das Team des Kinderhilfswerks die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen und beweist: Die Minderjährigen fühlen sich ausgeliefert, ihre psychische Gesundheit erodiert.

Der offizielle Grund für die Einführung der AnkER-Zentren und der Ausweitung anderer zentraler Erstaufnahmen war, Asylverfahren zu beschleunigen und Abschiebungen direkt aus den Einrichtungen durchzuführen. Berücksichtigt wurde dabei nicht, dass negative Bescheide des BAMF, also Ablehnungen von Asylanträgen, mehrheitlich vor Gericht korrigiert werden müssen, weil die Anträge nicht ordentlich geprüft werden, und dass die Menschen somit, auch wenn sie irgendwann in Deutschland bleiben dürfen, oft erst einmal jahrelang in den Masseneinrichtungen gefangen sind.
Das schadet nicht nur der Integration, sondern ist nachweislich sogar teurer als die dezentrale Unterbringung in Wohnungen, wie es etwa das »Leverkusener Modell« vorsieht. Dass diese Reform, die Teil des Gesetzes zur »besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht« war, trotzdem aufrechterhalten bleibt, verweist auf einen anderen Zweck langfristiger Massenunterbringung. Sie soll vor allem eines, wie es im alten bayerischen Asylgesetz unverhohlen hieß: »die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern«.

Dass diese Haltung den Umgang mit Geflüchteten in Deutschland im Zuge des Rechtsrucks (wieder) zentral leitet, zeigte sich unter den Bedingungen der Pandemie noch deutlicher: Abschreckung um jeden Preis. So kritisierte auch Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat, dass die Staatsregierung offenbar »lieber eine Vielzahl an Infizierten und mutmaßlich vermeidbaren Toten in Kauf« nehme, als die Abschreckungs- und Abwehrhaltung in der Asylpolitik aufzugeben.
Sobald das Virus eine Unterkunft erreichte, hatten die Bewohner*innen kaum eine Chance, der Infektionsgefahr aus dem Weg zu gehen.

Wie im schwäbischen Ellwangen. Die ganze Unterkunft wurde am 5. April unter Quarantäne gestellt, nachdem sieben Geflüchtete positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Niemand durfte fortan das eingezäunte Gelände verlassen. Die Polizei bewachte es rund um die Uhr. Vier Wochen später waren von den 600 Geflüchteten nach offiziellen Angaben über 400 infiziert. Fast 70 Prozent. Mehrere Medien berichteten von mangelnden hygienischen Zuständen. Das Regierungspräsidium Stuttgart wies die Vorwürfe zurück, die Maßnahmen zur Unterbringung entsprächen den Empfehlungen des Ministeriums: Mehrmals täglich würden die Sanitätsanlagen gereinigt und infizierte Personen von ihren Mitbewohner*innen isoliert.

Die Aussagen von Bewohner*innen und ihre Videos ließen aber an den Informationen des Präsidiums zweifeln. Infizierte Bewohner*innen teilten sich weiterhin zu fünft Zimmer mit gesunden Menschen, sie teilten sich Toilettenräume und Gemeinschaftsduschen. Essensrationen holten alle in derselben Kantine ab. Die Lagerleitung berücksichtigte dabei nicht den besonderen Lebensmittelbedarf von schwangeren Frauen und kleinen Kindern, wie die Bewohner*innen auf der Plattform Refugees4Refugees berichteten.

Als Sofortmaßnahmen forderten die Geflüchteten hier ebenso wie schon die Flüchtlingsräte: die dezentrale Unterbringung der Risikogruppen, die Bildung von kleinen Quarantänegruppen (Familien oder maximal drei Personen) außerhalb der Erstaufnahme. Nichts davon wurde realisiert. Noch in der Woche vom 1. Mai gab es mindestens weitere 23 Neuinfektionen. Die Ausgangssperre, die bis ursprünglich Anfang Mai geplant war, wurde daraufhin verlängert.
Ellwangen war vielleicht das drastischste Beispiel, aber kein Einzelfall: Bundesweit wurden etliche Geflüchtetenunterkünfte wegen Corona abgeriegelt.

Die Behörden mehrerer Bundesländer verstießen damit gegen die Empfehlungen des RKI, das ebenfalls geschrieben hatte: »Für die BewohnerInnen sollte eine möglichst kleinteilige Kohortierung vorgenommen werden (bis max. 10 Personen). Die 14-tägige Quarantänefrist wird für jede Kohorte einzeln ausgesprochen.« Und gegen den Rat des »Kompetenznetzwerks Public Health COVID-19«, ein Zusammenschluss aus 25 Forschungsinstituten und Forscher*innen, der die Lage in Gemeinschaftsunterkünften folgendermaßen bewertet hatte: »Eine Kollektivquarantäne hat keinen Zusatznutzen gegenüber einem Vorgehen, das Fallquarantäne und Reihentestungen mit ausschließlicher Quarantäne Infizierter verfolgt.«

Quarantäne-Maßnahmen für ganze Unterkünfte führten immer nur dazu, dass das Virus sich noch weiter ausbreiten konnte. In Halberstadt in Sachsen-Anhalt etwa wurden Ende März rund 850 Menschen im Lager unter Quarantäne gesetzt, nachdem bei einem Bewohner eine Infektion nachgewiesen worden war. Zäune wurden aufgestellt zwischen den einzelnen Wohneinheiten, Polizei rückte an. Das sind extrem angsteinflößende Maßnahmen für ohnehin schon traumatisierte Menschen. Laut Mamad Mohamad vom Landesnetzwerk Migrationsorganisationen in Sachsen-Anhalt (LAMSA) wurde das Vorgehen den Bewohner*innen nicht gut erklärt. So hätten viele panisch gedacht, sie würden nun abgeschoben.

In Thüringen reagierten die Behörden ähnlich auf die ersten Corona-Fälle in der Erstaufnahme in Suhl. Die 533 Geflüchteten kamen in Quarantäne, und als sie protestierten, stürmte die Polizei das Heim. Spezialkräfte trugen weiße Schutzanzüge, Masken und Schutzbrillen, darüber ihre Waffen und Ausrüstung. In Nordrhein-Westfalen wurden sechs Corona-infizierte Bewohner der Landeserstaufnahmeeinrichtung Bielefeld am 11. April in ein Gefängnis gesperrt, weil sie angeblich gegen Quarantäneanordnungen verstoßen hätten.

Mitarbeiter*innen in Unterkünften wurden mit den Situationen allein gelassen. Sie fragten verständlicherweise, was ihnen anderes übrig bleibe, als die Polizei zu rufen, wenn sich einzelne Bewohner*innen, die positiv auf das Virus getestet wurden, nicht an Quarantäne-Vorschriften halten und damit andere Menschen innerhalb und außerhalb der Unterkunft gefährden. Die Sozialarbeiter*innen vor Ort hatten keinerlei zusätzliche Ausstattung in der Krise erhalten. Sie waren es, die nun Hunderten von Menschen, die zum Teil unterschiedliche Sprachen sprechen, vermitteln mussten, warum sie ein bestimmtes Areal nicht verlassen dürfen. Oft führte dann auch der Mangel an Information dazu, dass einzelne Bewohner*innen sich nicht verantwortungsvoll verhielten. Und genauso der Umgang der Behörden mit ihnen: Wenn die Behörden sich nicht verantwortungsvoll ihnen gegenüber verhalten, wenn ihnen durch die Fortsetzung der Massenunterbringung in Zeiten von Corona vermittelt wird, ihre Leben seien nicht gleichermaßen schützenswert wie die der übrigen Bevölkerung, warum sollten sie selbst diesen Behörden dann entgegenkommen?

In Bremen protestierten Geflüchtete ebenfalls gegen die Bedingungen in einer Erstaufnahmeunterkunft, in der Fälle von COVID-19 aufgetreten waren; sie kritisierten, auf viel zu wenig Raum zusammengepfercht zu sein und in einigen Räumen keine Fenster öffnen zu können. Sunny Omwenyeke, ein Aktivist von Together We Are Bremen, erzählte, die Behörden hätten daraufhin begonnen, einzelne Menschen zu verlegen — und zwar diejenigen, die den Protest initiiert hatten. Eine Methode, mit der die Behörden den Widerstand der Geflüchteten zu brechen versuchen, das kenne er auch aus anderen Kontexten, sagt Omwenyeke, der schon lange Teil des Forums für Geflüchtete in Deutschland, The VOICE, ist. Doch die ersten Geflüchteten gingen juristisch gegen die Bedingungen vor, denen sie in den Lagern ausgesetzt sind, sie zogen vor Gericht, in Leipzig, Dresden und Chemnitz. Und so offenbarte sich in der Corona-Zeit noch eine andere Selbstverständlichkeit: dass Menschen Stimmen haben, auch wenn niemand hinhört, dass sie Rechte haben in diesem Staat, auch wenn die Regierenden das immer wieder zu vergessen scheinen. Die Gerichte gaben den Klagen der Geflüchteten jeweils statt: Sie durften die Erstaufnahmeeinrichtungen verlassen. Die staatlich verordneten Schutzregeln könnten dort nicht eingehalten werden, und gerade Asylsuchende, so das Leipziger Verwaltungsgericht, bräuchten besonderen Schutz. Auf diese Urteile könnten sich nun alle berufen, die trotz Corona noch in Erstaufnahmen gesteckt werden.

Was sich dann aber offenbart, ist ein anderes Problem: Sehr viele Geflüchtete leben weiter in Gemeinschaftsunterkünften, obwohl sie längst die Erlaubnis hätten, sich selbst eine Wohnung zu suchen. Auch der 35-Jährige aus Afghanistan, der in einer Münchner Gemeinschaftsunterkunft an Corona erkrankte und schließlich starb, hätte das Recht auf eine eigene Wohnung gehabt. Doch wo sollen die Menschen hinziehen in den immer teureren Städten? Wenn schon diejenigen mit deutschen Namen, diejenigen, denen gegenüber Immobilieneigentümer*innen keine rassistischen Vorbehalte haben, diejenigen, die gar die besten Kontakte spielen lassen können, wenn schon diese alteingesessenen Deutschen mit Festanstellungen keine Wohnungen finden, die sie sich leisten könnten, wie soll es dann Menschen gelingen, die hierher geflohen sind? Die Städte müssen sich verändern, Lebensraum bieten statt begehbare Anlagedepots.

Doch auch die deutsche Provinz, aus der die Nachkommen Alteingesessener so oft wegziehen, in der Häuser leer stehen und die Ideen ausgehen, könnte für manche der Neuankömmlinge zur Heimat werden. Für diejenigen, die Ruhe und Schutz suchen. Dafür muss sich an diesen deutschen Orten ebenfalls sehr viel verändern, aber das kann es auch nur, wenn die soziale Segregation beendet wird. Dafür braucht es endlich auch das Ende der Residenzpflicht, jener Regel, die selbst diejenigen noch immer dazu verpflichtet, in einem bestimmten Umkreis zu bleiben, über deren Anträge bereits positiv entschieden wurde.

Wenn wir das System der Ghettoisierung von Geflüchteten beenden wollen, zeigen sich noch ganz andere Probleme des sozialen Raums, des Raums, in dem die Menschen wohnen und leben. Die Frage danach, wie wir das tun wollen, wie wir wohnen, leben wollen, ist untrennbar verbunden mit der Frage, wer das »wir« überhaupt ist.

Alle Menschen müssen das Recht haben, ihren Wohnort frei zu wählen. Sonst ist niemand frei.