Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
November 2020
Incels? Diejenigen, die den Begriff in Deutschland überhaupt kennen, haben meist einzelne Nerds vor Augen, die keine Frauen abkriegen, sie deshalb hassen und zuweilen Amok laufen. Wie Elliot Rodger, der 2014 aus Rache für sein unerfülltes Begehren in Santa Barbara sechs Menschen und sich selbst tötete, oder Alek Minassian aus Toronto, der 2018 „The Incel Rebellion has begun“ ins Netz schrieb und dann in eine Menschenmenge raste. Psychopathen, die weit weg, in Nordamerika vor ihren Rechner sitzen.
Zwei neue Veröffentlichungen zeigen: Diese Wahrnehmung greift zu kurz. Die Dokumentation „Suizid, Gewalt, Frauenhass: Wie gefährlich sind Incels in Deutschland?“ des Y-Kollektivs vom ARD- und ZDF-Jugendsender Funk, durch die vor allem Isabell Beer führt, und die Studie „Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ von Veronika Kracher, die vergangenen Freitag erschienen ist, belegen, was in manchen Berichten zum Terroranschlag von Halle schon anklang (der Täter hörte ein Lied, das Minassian aus Toronto huldigte): Jene Männer, die sich selbst auf Internetforen als „involuntary celibatair“ bezeichnen, als „unfreiwillig zölibatär“, sind international vernetzt, frauen- und damit menschen- und demokratiefeindlich und sie finden auch in Deutschland immer mehr Anhänger.
Beers und Krachers Recherchen ergänzen einander: Beer war selbst monatelang undercover auf dem Forum incels.co angemeldet, baute Kontakte zu deutschen Incels auf, chattete unter einer fiktiven Incel-Identität mit ihnen und erfuhr, wer sich hinter den Pseudonymen im Netz verbirgt. Kracher sammelte und analysierte mehr als zwei Jahre lang alle Inhalte, die sie zum Phänomen finden konnte — und man findet einiges, wenn man denn sucht. Sie zeigt, wie breit vernetzt, diffus dezentral und sektenartig zugleich die Incel-Community ist, die zehntausende aktive Anhänger, also registrierte Foren-Mitglieder umfasst, die sich hauptsächlich in den USA und in Europa befinden.
Incels, das wird klar, sind nicht immer rechts und antisemitisch, wie es der Täter aus Halle war, einige der deutschen Incels erfahren nach eigenen Angaben auch selbst Rassismus. Doch eins sind sie alle — selbst diejenigen, die auf „incels without hate“ vermeintlich nur jammern wollen: Radikal misogyn. Und von einem skurrilen Schönheitswahn getrieben.
In ihrem Weltbild gibt es ein einziges Diskriminierungsverhältnis: Eine vermeintlich natürliche Hierarchie der Physiognomie von Menschen, eine Hierarchie der Attraktivität. In dieser Hierarchie verorten sie sich selbst ganz unten: Sie seien hässlich.
Dennoch müsste es eigentlich, so denken Incels, für jeden noch so hässlichen Mann eine Frau geben, die sich auf seiner Attraktivitätsebene befände, die ihm von Natur aus zur Verfügung stehen und ihn sexuell befriedigen sollte. Doch, anders als immer behauptet, seien Frauen fies und oberflächlich: Sie alle wären nur auf Chads aus — so nennen Incels die Männer, die in der vermeintlichen Attraktivitätshierarchie ganz oben kämen. Daran wiederum sei der Feminismus schuld, der den Frauen überhaupt erst ermöglicht habe, zwischen Männern zu wählen.
Einige weniger radikale Incels beraten sich deshalb zu ästhetischen OPs und Muskeltraining. Absurderweise haben sie sich dafür den Begriff „Lookism“ angeeignet, mit dem an Unis die Herrschaft von Schönheitsidealen kritisiert wird: Auf „lookism.net“ vermessen sie ihre Gesichter, bestätigen sich ihre vermeintliche Hässlichkeit und empfehlen einander Chirurgen, die jungen Männern die Kiefer brechen, um sie breiter zu machen. Kracher erkennt hier die Wirkung des Neoliberalismus und seines Zwangs zur Selbstoptimierung.
Die meisten Incels haben aber keine Hoffnung mehr. Ein Incel in der Dokumentation des Y-Kollektivs sagt, dass es nur zwei Lösungen gäbe: Entweder die Regierung würde „den sexuellen Markt regulieren“ und so jedem Mann eine Frau zum Sex zuordnen, oder aber: Selbstmord. Incels müssten sich umbringen, wenn ihr Problem nicht staatlich gelöst würde.
Manche Incels sind wohl tatsächlich suizidal. Die Dokumentation zeigt, dass User, die über Monate permanent online sind, dann immer öfter Überlegungen zum Selbstmord äußern und dafür von anderen Applaus bekommen, plötzlich nicht mehr auftauchen. Sie sind abhängig vom Austausch auf den Foren, auf denen sie sich gegenseitig immer weiter in die Verzweiflung treiben. Hier finden sie Bestätigung — Bestätigung in ihrem Hass.
In den Fantasien der meisten Incels richtet sich die Gewalt aber nicht nur gegen sie selbst, sondern vor allem gegen Frauen. Es gelte, Rache zu nehmen, egal, an welcher. Die Seiten, auf denen Kracher den Incels nachspürt, kann man sich kaum zumuten, sie heißen etwa „raping girls is fun“, verbreiten das rapepill-manifest, also Tipps zur Vergewaltigung, und pädophile Postings. Beer bekommt während der Recherche Bilder von Frauen-Leichen zugeschickt, zur Erheiterung. Der Incel, der sie ihr schickt, denkt schließlich, sie sei auch einer.
Kracher reflektiert die gesellschaftlichen Gründe für die Entstehung und das schnelle Wachstum der Incel-Community, sieht sie als Teil einer „autoritären Revolte“, eines breiten Aufbegehrens derjenigen, die eine alte patriarchale Ordnung erhalten wollen. Eine Ordnung, in der Männer vermeintlich stark und autonom sind, Frauen verfügbar. So wie es angeblich einst war, bevor der Feminismus die Frauen wider ihre Natur ermächtigt habe. Diese alte Ordnung könne nur mit Gewalt wieder hergestellt werden, so die Incels. Der Attentäter Elliot Rodger, das Vorbild vieler Incels, schrieb in seinem Manifest: „Who‘s the alpha man now bitches?“
Die Bewegung ist in ihrer Destruktivität nicht zu unterschätzen und immer mehr junge Männer steigen immer tiefer in den dezentral organisierten Kult ein. Es brauche eine Ausstiegsstruktur, so Kracher, wie für Rechtsradikale oder ehemalige Sektenmitglieder. Foren wie IncelExit, die Therapie- und Yogangebote vermitteln, könnten nur der Anfang sein. Für diejenigen Männer, die Pläne austauschen, sich jugendliche Sexsklavinnen zuzulegen oder Anschläge zu begehen, reicht das wohl nicht.
Allein seit 2015 zählt Kracher neun explizite Incel-Attentate, bei denen fast 50 Menschen, vor allem Frauen, ermordet wurden. Tendenz steigend. Erst im Februar dieses Jahres betrat ein 17-Jähriger in Toronto einen Massagesalon, er zückte ein Messer und stach auf die ihm unbekannten Angestellten ein. Er attackiert sie, weil sie Frauen waren. Im Mai schlug ein Bombenanschlag auf ein Einkaufszentrum im US-Bundesstaat Virginia fehl, mit dem ein Incel sich an Cheerleaderinnen rächen wollte, die ihm den Sex verweigert hätten.
In Kanada werden Incel-Taten jetzt offiziell als terroristische Akte eingestuft. Das ist notwendig, um präventiv gegen die Netzwerke vorzugehen und weitere Anschläge auf Frauen zu verhindern.
Als Beer die Vernichtungs- und Vergewaltigungsankündigungen, auf die sie stößt, der Polizei weiterreicht, heißt es nur, dem BKA lägen keine Erkenntnisse zur deutschen Incel-Szene vor. Der Verfassungsschutz sei zuständig. Der wiederum weist die Hinweise ebenfalls ab. Kein Interesse.
Im Umgang der deutschen Behörden spiegelt sich die gesamtgesellschaftliche Ignoranz gegenüber Frauenhass und Antifeminismus. Eine Ignoranz, die sich auch dank der beiden Veröffentlichungen immer schwerer rechtfertigen lässt.