Unter Ada Colau zeigt die Stadt, wie smart mehr Demokratie sein kann – und wie attraktiv öffentlicher Raum dabei für alle wird.

Frankfurter Allgemeine Quarterly 8
September 2018

Ohne vorher je ein öffentliches Amt bekleidet zu haben, wurde die Aktivistin Ada Colau 2015 zur Bürgermeisterin von Barcelona gewählt. Sie versprach eine demokratische Revolution, sie versprach, die Stadt so zu gestalten, dass alle, die dort leben, gleichermaßen teilhaben können, egal, welches Gehalt sie haben oder welches Geschlecht, welchen Aufenthaltsstatus oder welche Hautfarbe. Sie versprach, die Stadt von unten zu digitalisieren statt die neoliberale Smart City zu akzeptieren, in der profitorientierte Firmen Daten einzelner Bewohner zur vermeintlichen Verbesserung der Sicherheit sammeln. Sie wollte mehr Bänke und weniger Überwachungskameras, weniger Shoppingcenter und mehr Tischtennisplatten — und mehr Apps, die einem sagen, wo die Bänke und die Tischtennisplatten stehen. „Take back the streets“ hieß für die neue Stadtregierung auch: Take back the technology.

Dafür holte Ada Colau Programmierer und Cryptographen ins Rathaus — und sie holte eine Frau, die über alles das Sagen haben sollte: Francesca Bria, Ökonomin und Technologie-Expertin aus Italien, die weltweit an verschiedenen Universitäten unterrichtet hatte und gerade Nest mitanführte, die britische Innovationsagentur.

„Ich saß in London, als Ada anrief. Wir kannten uns nicht, sie fragte: Wollen Sie die Digital-Chefin von Barcelona werden? Wollen Sie ein Konzept entwickeln, die Stadt im Sinne der Bewohner zu digitalisieren statt zu Gunsten der Konzerne? Wir stellen Ihnen alle Mittel zur Verfügung.“ Bria hatte schon seit ein paar Jahren dazu geforscht, wie urbane Technologien demokratisiert werden können. Sie flog nach Barcelona, die beiden Frauen verhandelten, einigten sich, Anfang 2016 konnte Bria mit der Arbeit beginnen.

Sie sitzt am Kopfende eines langen Tisches, an einer Tafel aus Ebenholz, an der  wahrscheinlich fünfzig Menschen Platz hätten, in einem der Plenarsäle im Rathaus von Barcelona. Ihre Mitarbeiterin fragt: Kaffee? Nein, Bria will nur Wasser. Sie steht auf, geht zum Fenster, stellt die Klimaanlage höher. Bloß kein Fenster öffnen. Draußen hat es 35 Grad und die Luft ist so feucht, dass kein Sauerstoff mehr Platz darin hat. Auch in den alten Räumen hier drinnen ist es muffig, aber die Technik funktioniert, es wird kühl und auch das W-Lan ist so schnell wie Bria selbst. Sie tippt eine Email auf ihrem Handy, legt es weg und erzählt dann, was sie in den letzten zwei Jahren gemacht hat: Sie hat die digitale Infrastruktur der Stadt komplett umcodiert.

Auf den ersten Blick schien Barcelona bei Brias Amtsantritt noch in der Zeit der Erasmus-Studenten aus dem Film l`Auberge Espagnole festzustecken, aber eigentlich war die Stadt schon 2015 eine der ersten und der führenden Smart Cities der Welt — und zwar nach dem Modell, wie es sich angesichts der Innovationsmüdigkeit von Menschen in Rathäusern und ihrer Hörigkeit großen Unternehmen gegenüber meistens etabliert: Tausende Sensoren speicherten Daten zu Transport, Energieverbrauch und Lärm. Ähnlich wie in anderen Top-Down-Smart-Cities wie etwa in Songdo in Südkorea hielten Kameras und Chips fest, was sich in der Stadt tut, was die Bewohner  tun. Das Rathaus bekam den gläsernen Bürger und die großen Konzerne die gläsernen Verbraucher.

Die Vorgängerregierung hatte Verträge mit großen Technologie-Unternehmen wie Cisco, IBM und Microsoft abgeschlossen. „Aber die Stadt hatte keine Kontrolle über die Daten, keine Kontrolle über die Sensoren“, sagt Bria. Ihre Smart City sei nicht technologiegetrieben. Sie würden stattdessen fragen, wie eine lebenswerte Stadt aussieht und wie die Menschen selbst darüber bestimmen können, wie sie leben wollen. „Technologie ist nur dazu da, das zu unterstützen.“

Brias Team setzte eine digitale Plattform auf: Decidim, was „Wir entscheiden“ auf Katalanisch heißt. Die Bewohner der Stadt können darauf Vorschläge für die Regierung einbringen und darüber abstimmen — ähnlich wie auf Twitter und Facebook, nur dass Decidim die Privatsphäre der Einzelnen schützt und öffentlich macht, was mit den Datenspuren passiert, die sie auf der Plattform hinterlassen, inwiefern die Regierung sie umsetzt.

Über zwei Drittel der Agenda der Legislatur beruhe auf den Ideen, die auf Decidim diskutiert wurden, heißt es. „40.000 Menschen formulierten dafür online Konzepte, die sie davor bei Offline-Versammlungen mit noch mehr Menschen diskutiert hatten“, sagt Bria. Zu den wichtigsten Anliegen der Menschen zählten, dass bezahlbarer Wohnraum geschaffen, die Luftqualität verbessert und öffentlicher Raum ausgeweitet werde. „Es war der richtige Zeitpunkt für mehr On- und Offline-Demokratie. Die Leute hatten genug – genug von einer Politik, die nur den Eliten dient“, sagt sie.

Die Bürgerbewegung, aus der Ada Colau kommt, die PAH, hatte sich 2009 in Barcelona gegründet, nachdem 400.000 Häuser und Wohnungen im Land zwangsgeräumt worden waren. Die PAH-Aktivisten protestierten gegen Kreditgeber und die wachsende Ungleichheit, besetzten Banken und blockierten Räumungen. In ganz Spanien gründeten sich in der Folge Protestgruppen, die — ähnlich wie die Occupy-Bewegung — das Ziel hatten, sich dezentral und führungslos zu organisieren. Als Ada Colau 2013 das erste Mal die Interessen ihrer Bewegung vor dem Parlament vertrat, begann sie mit den Worten: „Bevor ich irgend etwas sage, möchte ich eine Sache klarstellen: Ich bin keine wichtige Person. Ich bin hier nur, um einer Bürgerbewegung jetzt kurz ein Gesicht zu geben.“

Sie verweigerte die Repräsentantin zu sein und wurde aber genau mit dieser Rede vor dem Parlament erst recht dazu. Vor allem damit, dass sie ihre Rede plötzlich unterbrach, um sich an den Vorredner zu wenden, den stellvertretenden Generalsekretär des spanischen Bankenverbunds, und ihn einen Kriminellen zu nennen, der auch so behandelt werden sollte. Als der Vorsitzende des parlamentarischen Wirtschaftsausschusses sie aufforderte, die Aussage zurückzunehmen, schüttelte sie den Kopf – das dokumentiert ein Video, das im spanischsprachigen Internet viral ging. Genau wie ein Foto von Colau, das zeigt, wie sie sich ein paar Monate nach ihrem Auftritt im Parlament in Barcelona bei einer Demonstration gegen eine Festnahme wehrte.

Zwei Jahre später, im Mai 2015, gewann Colau die Wahl zur Bürgermeisterin der Stadt. Ihre offene kommunale Liste „Barcelona En Comú“ (Gemeinsam Barcelona) wurde mit 25,2 Prozent auf Anhieb stärkste Partei. Nicht nur in Barcelona, auch in Madrid, Valencia und Saragossa gingen bei dieser Kommunalwahl 2015 die Rathäuser an Listen links der Sozialdemokratie – an Kandidaten, die sich bewegungsnäher als die neue Linkspartei Podemos verorteten, die weiter über die Verankerung in Stadtteilen und Gemeinden wachsen sollten.

Ada Colaus Bewegung stand exemplarisch für dieses Projekt. Als sie Bürgermeisterin wurde, war sie nicht nur die erste Frau, sie war auch die erste Hausbesetzerin, die erste Linksradikale an der Spitze Barcelonas.

Als erste Amtshandlung kürzte sie Gehälter aller gewählten Vertreter, auch ihr eigenes auf ein Fünftel dessen, was Bürgermeister bislang verdient hatten, auf 2200 Euro im Monat, schaffte den Dienstwagen vom Vorgänger ab und regte an, etwa mit den 4 Millionen Euro, die bislang jährlich in die Unterstützung des Grand Prix geflossen waren, Kindern aus armen Familien das Essen in der Schule zu finanzieren. Sie ließ Banken, die leeren Wohnraum besaßen, Bußgelder zahlen, verabschiedete einen Sonderhaushalt von mehr als 100 Millionen Euro zur Armutsbekämpfung, legte ein kommunales Wohnungsbauprogramm und ergriff Maßnahmen, um den Massentourismus in Barcelona einzudämmen — alles auf Anregung der Diskussionen und Abstimmungen bei den öffentlichen Versammlungen und auf der Plattform „Decidim“, die Bria entworfen hatte.

Bria war nie Hausbesetzerin, doch die promovierte Ökonomin teilt Colaus Überzeugungen: Mehr Feminismus und mehr Kommunismus — Daten-Kommunismus zumindest. Der Überwachungs-Kapitalismus des Silicon Valley ist ihr Hauptfeind.

Bria trägt ein kleines Schwarzes, wirft sich die Lederhandtasche über die Schulter und streicht die glänzenden, langen braunen Haare hinter das Ohr. Die Smart-City-Tour kann beginnen. Der Fahrer wartet draußen, das Auto ist stark klimatisiert. Bria sagt etwas in einer Mischung aus Spanisch und Katalanisch zu ihm und ihrer Mitarbeiterin, sie lachen.

Sie ist die einzige Ausländerin im Parlament. Das machte es ihr nicht unbedingt leichter, die gesamte Verwaltung umzukrempeln: Die ersten sechs Monate ihrer Amtszeit verklickerte sie allen Angestellten, dass sie jetzt anders zusammenarbeiten würden, dass sie Daten austauschen, dass sie offene Betriebssysteme nutzen würden, bei denen alles, was sie tun, für die Bewohner der Stadt transparent sein würde.

Das Auto stoppt an Barcelonas zentralem Informationsinstitut. Hier finden kostenlose Kurse im Programmieren, Social Media Nutzung und allen anderen Dingen statt, die man im Umgang mit dem Internet und Computern lernen kann. Als hätte Bria es so choreographiert sitzen in der Klasse, auf die man durch die erste Fensterscheibe schaut, Menschen zwischen 20 bis 80 Jahren, einer in Designerklamotten, die andere mit Dreadlocks, insgesamt mehr Frauen als Männer, und Hautfarben sind auch alle möglichen vertreten. Bria grinst ihre Mitarbeiterin an und begrüßt im nächsten Raum drei Männer. Der älteste scheint der Chef zu sein, auf Nachfrage hin sagt er: Nein, Francesca ist die Chefin. Sie rollt die Augen.

Der Mitarbeiter leitet jetzt den Rundgang durch den Superblock, der das Informationsinstitut umgibt. Superblocks sind auf den ersten Blick nichts anderes als verkehrsberuhigte Zonen: Hier fahren fast keine Autos — die kommen wegen der vielen Bäume auf der Fahrbahn nur im langsamen Zickzack voran. Das Konzept ist aber umfangreicher, die Bewohner haben darüber entschieden. Superblocks sind kleine Dörfer in den Städten. Auf einer Fläche, die sich in zehn Minuten zu Fuß durchschreiten lässt, findet sich alles, was die Bewohner zum täglichen Leben brauchen: Lebensmittelladen, Apotheke, Arzt, Kinderbetreuung, Schule, Spiel- und Sportplatz, Fahrradsharing, Café, Lokal und ein paar kleine Geschäfte. Und alles ist mit Sensoren versehen, die etwa zeigen, ob die Tischtennisplatte um die Ecke gerade belegt ist, wieviele Räder frei sind, wie lange man beim Arzt warten muss, wie hoch der CO2-Ausstoß im Viertel gerade ist und wieviel Müll die Nachbarschaft erzeugt — eine Müllabfuhr braucht es hier keine mehr, ein unterirdisches Recyling-System trennt und transportiert alles ab, was in die silber-grauen Container an den Straßenecken geworfen wird.

Brias Team nutzt die Sensoren-Netzwerke, die bereits zuvor entwickelt waren — doch alles, was die sammeln und speichern, soll jetzt Demokratie fördern, statt die Bürger zu entmündigen: Sie haben selbst Zugriff auf alle Daten. Sie können zusätzlich eigenständig Sensoren zum Messen der Luftverschmutzung und Lärmbelastung anbringen, wo es ihnen sinnvoll erscheint. Die Sensoren bekommen sie umsonst von der Stadt. Eine Open-Source-Plattform hilft ihnen, die Daten zu analysieren und die Zusammenhänge auf ihren Viertel-Versammlungen zu diskutieren. So soll das dezentrale Regieren des Zusammenlebens noch besser funktionieren. Im Rahmen des Programms „Decode“ (DEcentralised Citizen-owned Data Ecosystems), für das Bria finanzielle Unterstützung von der Europäischen Kommission bekommt, hat sie rechtliche und technologische Bedingungen dafür geschaffen, dass die Bürger von Barcelona die Daten gemeinschaftlich besitzen können, dass sie also nicht der Verwaltung oder dem Parlament gehören. Die Bewohner können dann zusammen entschieden, welche Daten an die Politik und welche eventuell an Unternehmen weitergereicht werden.

Eine ähnliche Software können die Menschen auch für ihre eigenen digitalen Geräte nutzen. „Das Ziel ist der ‚smartcitizen‘“, sagt Bria. In einem Fablab, in einer offenen Werkstatt, in der man mit digitalen Produktionsmitteln und Produktionsverfahren experimentieren kann, wurde ein kleines Gerät entwickelt, das die Leute an den eigenen Computer zuhause oder das Handy anschließen können, um damit ihren Datenfluss zu dokumentieren und ihre persönliche digitale Spur aufzuzeichnen. „Sie können so selbst entscheiden, welche Daten sie teilen wollen — und mit wem. Das ist ein neuer Sozialvertrag.“

Und für diesen neuen Vertrag sei die städtische Ebene genau die richtige. Die Menschen hätten vielerorts und in vielerlei Hinsicht das Vertrauen in die Politik verloren, sagt Bria. „Städtische Verwaltungen sind den Menschen näher als nationale — sie sind das Level, auf dem wir mit anderen, neuen Modelle der Regierung experimentieren können.“ Es klingt alles fast zu schön, um wahr zu sein, und man sucht nach Kritikern, die irgendwelche Fehler oder zumindest Nachlässigkeit aufzeigen können in Brias Projekt. Was ist denn zum Beispiel mit all den Daten, wenn die Regierung wechselt? Könnte die dann nicht einfach die Spielregeln wieder ändern und auf alles zugreifen, was jetzt schon vermessen wird?

Auch dieser Problematik ist sich das Team schon bewusst, natürlich will man fast einwerfen. Und sie arbeiten an technischen Lösungen. An Lösungen, die sie auch mit anderen teilen wollen.  Alles, was sie in Barcelona entwerfen, ist Open Source, kann also von anderen Städten übernommen werden — genau das wollen sie: „Dass sich diese Art der Politik verbreitet, weil der Neoliberalismus, der auch das Silicon Valley regiert, sonst unsere Demokratien zerstört.“ In Barcelona fand im letzten Jahr der erste Kongress der „Fearless Cities“ statt, eines Zusammenschluss`von Städten aus aller Welt, die mehr Demokratie auf der lokalen Ebene wagen wollen.

Neben den neoliberalen Trends wollen die Bürgermeister und Lokalpolitiker damit auch die andere, anti-demokratische Kraft, die sich in Europa verbreitet, bekämpfen: den Nationalismus. Beide haben, so heißt es aus dem Netzwerk, schließlich das gleiche Ziel, die Entsolidarisierung. Solidarität aber sei die Grundlage für jedes demokratische System und sie beweise sich vor allem im Umgang mit denen, die gerade am verletzbarsten sind, die am wenigsten Ressourcen haben. Und das sind die Menschen, die in Europa Schutz suchen.

„Barcelona en Commun“ hat neben dem Netzwerk der angstfreien Städte im Herbst 2015 auch noch einen anderen Zusammenschluss angeregt: den der „Städte der Zuflucht“. Colau kündigte an, die Ausgaben für die Integration von Neuankömmlingen im Vergleich zu den Vorgaben der spanischen Zentralregierung zu erhöhen, etwa für die Erstaufnahme und Unterbringung (dezentral in Wohnungen oder WGs), für juristischen Beistand, Sozialarbeit und psychologische Betreuung und investierte 300.000 Euro für diejenigen, die ganz von den staatlichen Hilfen ausgeschlossen bleiben. Die Bürgermeisterinnen von Madrid und Paris zogen wenig später nach und erklärten ihre Städte ebenfalls zu Orten der Zuflucht. Zusammen mit Ada Colau schrieben sie einen offenen Brief an die EU: Die europäischen Staaten würden sich mit ihrer Flüchtlingspolitik unglaubwürdig machen, die gemeinsame Idee verraten, die dem europäischen Zusammenschluss zugrunde liege. Sie appellierten an die EU, den Städten die nötigen Gelder für die Versorgung von Geflüchteten direkt zukommen zu lassen.

Einer sollte die hehren Pläne der „Stadt der Zuflucht“ umsetzen, einer sollte neben Francesca Bria die großen Neuerungen in Barcelona unternehmen: Ignasi Calbo, ein alter Uni-Freund Colaus. Sie hatten zusammen studiert, kannten sich von Hausbesetzungen und Partys. Er war nie so tief verankert in den linken Bewegungen der Stadt wie sie, dafür war er zu viel unterwegs: Als Jurist mit besonderem Schwerpunkt auf Menschen- und Migrationsrecht begleitete er ?? Jahre „Ärzte ohne Grenzen“ in verschiedenen Krisengebieten, bevor er nach Barcelona zurückkam, um als Anwalt von Asylsuchenden zu arbeiten.

Calbo kam ähnlich unkonventionell zu seinem Amt wie Bria. Einen Tag nachdem im September 2015 das Bild von Alan Kurdi, dem kleinen toten Jungen am Strand in der Türkei, durch die Medien ging, erinnert sich Calbo, rief Colau an: Sie säße gerade mit anderen aus der Regierung zusammen in ihrem Wohnzimmer und bräuchte Rat von einem Asyl-Experten. Er fuhr hin und sie diskutierten darüber, inwieweit Barcelona einen Umgang mit Flüchtlingen etablieren könnte, der die restriktiven Vorgaben der spanischen Regierung unterliefe.

Er fuhr wieder in sein Büro zurück und erhielt am nächsten Tag erneut einen Anruf. Die Bürgermeisterin sagte, er hätte es wohl nicht gemerkt, das sei sein Bewerbungsgespräch gewesen: Ob er der Direktor des Programms „Stadt der Zuflucht“ werden, also das neu geschaffene Amt des Flüchtlingsbeauftragten übernehmen wolle?

Calbos Räume befinden sich in einem anderen Flügel des Rathauses als die von Bria, aber er ist ohnehin schon nach Hause gegangen: Der Babysitter ist ausgefallen und seine Frau, eine Ärztin, die er bei einem Einsatz in Algerien kennenlernte, kann ihre Patienten nicht allein lassen. So bittet Calbo darum, das Treffen in ein Café in seinem Viertel zu verlegen, damit er seinen einjährigen Sohn mitnehmen kann. Das Café ist ein vietnamesischer Imbiss. Calbo will Cola light und gibt dem Kind die Zitronenscheibe zum Lutschen.

Calbos Ziel ist, die „Stadt der Zuflucht“ nach dem Vorbild der amerikanischen Sanctuary Cities zu gestalten: Städte wie New York und San Francisco vergeben lokale Ausweise an alle, die in der Stadt ankommen, damit sie sich frei bewegen können — unabhängig davon, warum sie migriert sind.

„Das machen wir nicht nur aus moralischen Gründe“, sagt Calbo. „Migranten und Geflüchtete kommen an in Europa und ziehen in die großen Städte, egal, ob sie rechtlichen Anspruch auf Asyl haben oder nicht. Das ist die Realität, vor der können wir uns nicht verschließen.“ Nach den Vorgaben der europäischen Regierungen erfüllen Menschen ohne Papiere aber in den meisten Mitgliedsstaaten der EU einen Straftatbestand — und dann sind alle öffentlichen Stellen verpflichtet, sie zu melden. Das heißt: Sie können keine Wohnung mieten, kein Konto eröffnen, nicht zum Arzt gehen, ihre Kinder nicht in die Schule schicken, nicht verreisen, nicht legal arbeiten — sie leben in der Illegalität.

„Um soziale Konflikte zu vermeiden, müssen wir die Menschen von dem Moment an einbeziehen, in dem sie die Stadt betreten. Wir müssen ihnen Zugang zur Gesundheitsversorgung bieten, zu Bildungseinrichtungen, Sportmöglichkeiten und vor allem zu Sprachkursen, damit sie dann auch Arbeit finden“, sagt Calbo.

„Aber nehmen die Flüchtlinge den Katalanen dann nicht die Arbeitsplätze weg?“ Das sei eine der Fragen, über die sie in Zusammenarbeit mit hunderten Vereinen und Einzelpersonen im „Anti-Gerüchte-Netzwerk“ aufklären: auf einer Online-Plattform und bei Workshops in den Stadtvierteln. „Colau erklärt gerade den alten Bewohnern Barcelonas, dass die Neuen nicht ihre Feinde sind, dass sie auch arm sind — dass der Feind die großen Konzerne und die Banken sind“, sagt Calbo.

„Casa Nostra, Casa Vostra“ (Unser Haus, euer Haus) – unter diesem Motto bekundeten in Barcelona im Februar 2017 300.000 Demonstranten ihre Zustimmung zu Colaus Linie in der Flüchtlingspolitik — und ihre Empörung über die spanische Regierung, die parallel die Enklaven von Ceuta und Melilla zur stärksten befestigten Grenze Europas machte.

Trotzdem kritisieren antirassistische Initiativen in der Stadt, viele der Versprechen seien nur symbolisch, die papierlosen Straßenverkäufer würden immer noch von der Polizei kontrolliert und Unterbringungen für Neuankömmlinge seien weiter überfüllt. Calbo verweist auf die Minderheit, die Barcelona en Commun im Parlament stellt, darauf, dass sie nicht alles umsetzen könnten, erst recht nicht so schnell.

Viel Zeit bleibt aber vielleicht nicht mehr. Im Mai 2019 wird wieder gewählt und vor allem die Frage nach der Unabhängigkeit Kataluniens könnte Colau zum Fall bringen. Sie hat sich keinem der beiden Lager angeschlossen. „Die Befürworter tendieren zu Patriotismus, der dann auch nicht groß anders ist als der Nationalismus, und die Gegner sind neoliberal“, sagt Bria auf der Dachterrasse des Rathauses mit dem Blick über die Dächer der Stadt, dahinter zur einen Seite das Meer, zur anderen die Pyrenäen. „Es gibt aber einen dritten Weg. Und es wäre zu bitter, wenn wir ihn nicht weitergehen können.“