analyse & kritik 646
Februar 2019
Am 6. November 2017 steigen knapp 150 Menschen am Strand von Tripolis in Libyen in ein kleines Schlauchboot. Es ist Nacht, stockdunkel. Sie fahren raus, Meter um Meter wird das Meer rauer, nach acht Stunden steht das Wasser im Boot. Die Menschen beginnen zu schreien, zu weinen, zu brüllen. Einige gleiten ins Wasser, zum Teil ohne Schwimmwesten. Einer hat ein Satellitentelefon, ruft die italienische Küstenwache. Obwohl das Schlauchboot da gerade außerhalb der libyschen Gewässer angekommen ist, kommt die vermeintliche Hilfe aus Libyen.
Anfang 2017 haben die EU und Italien vereinbart, auch jenseits der Seegrenze Libyens könne deren Küstenwache einspringen. Die New York Times hat den Fall vom 6. November 2017 zusammen mit den Forschungsgruppen Forensic Oceanography und Forensic Architecture und den Überlebenden im Lauf des letzten Jahres aufgearbeitet, um zu zeigen, dass diese Neuregelung allein an einem Tag mindestens 20 Menschen das Leben kostet.
Auf dem libyschen Militärschiff, das sich an diesem 6. November dem Boot nähert, stehen Männer mit Handys. Sie filmen, wie ihr Schiff dem Schlauchboot viel näher kommt als es die Standards der Seenotrettung vorgeben, sie filmen, wie einzelne Menschen durch die Wellen, die das Manöver auslöst, aus dem Schlauchboot geworfen, unter das Schiff gezogen werden, verschwinden.
Bis sich die Seawatch nähert. Die Crew-Mitglieder starten in mehreren kleinen Rettungsbooten in Richtung der Hilferufe aus dem Wasser, ziehen Körper in ihre Boote. Die Crew weiß, dass libysche Soldaten in der Vergangenheit auf ehrenamtliche Seenotretter*innen geschossen haben, und auch jetzt werden die Männer aus Libyen immer aggressiver und beginnen, die kleinen Boote mit harten Gegenständen zu bewerfen, bis sie umdrehen. Unterdessen schlagen und bepöbeln die libyschen Soldaten die 47 Menschen, die sich auf das Deck ihres Schiffes gezogen haben. Die libysche Küstenwache bringt sie jetzt zurück in die Lager, aus denen sie geflohen waren. Mindestens zwei von ihnen werden mit Stromschlägen gefoltert und „weiterverkauft“: Die Menschenhändler machen Geld damit, die Misshandlungen aufzunehmen, zu fotografieren und zu filmen, um diese Dokumente an die Familien der Migrant*innen zu senden und Geld für das Ende der Folter zu fordern.
Nach einem Urteil des Europäischen Menschenrechtshofs aus dem Jahr 2012 müssen alle europäischen Kräfte auf See Migrant*innen vor dem Ertrinken retten und sie in einen sicheren Hafen bringen. In einen europäischen Hafen also, weil Libyen nach internationalen Standards nicht als sicher gilt. Wenn aber die libysche Küstenwache selbst einschreitet, dann haben die Europäer*innen keine Verantwortung mehr.
Im Sommer 2017 beschloss die EU-Kommission, 46 Millionen Euro für eine Stärkung der libyschen Küstenwache zu zahlen. Italien stattete sie bereits im Mai 2017 mit zwei ausgemusterten Schiffen aus. Das libysche Schiff vom 6. November 2017 war zuvor ebenfalls in Italien repariert worden, acht der 13 Crew-Mitglieder darauf hatten Trainings von der EU-Seenotrettungsmission Operation Sophia erhalten.
Fast 2.300 Menschen ertranken allein 2018 im Mittelmeer. Jeden Tag spielt sich ähnliches ab wie am 6. November 2017. Ein Jahr lang haben die Forscher*innen alles an Material, das sie finden konnten, zusammengetragen und im Dezember 2018 veröffentlicht.
Auf Basis dieses Materials klagen 17 der Überlebenden unterstützt vom Global Legal Action Network und der Association for Juridical Studies on Immigration vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Italien. Es ist das erste Mal, dass Migrant*innen juristisch gegen die Auslagerung des EU-Grenzregimes an libysche Milizen vorgehen. Die Entscheidung des Gerichts steht aus. Die Verurteilung der Pushback-Praxis ist notwendiger denn je angesichts der Erfolge der Rassist*innen, die Seenotrettung zu kriminalisieren und das Recht auf Asyl weiter abzuschaffen. Gegen mehrere Aktivist*innen und Crew-Mitglieder, die Menschen vor dem Ertrinken bewahrt haben, wird gerade ermittelt.
(Das Bild stammt von Forensic Architecture.)