An den EU-Außengrenzen finden brutale Pushbacks statt.
analyse&kritik
November 2021
An der Grenze zu Kroatien werden Menschen, die in Europa Asyl beantragen wollen, von vermummten Schlägertrupps misshandelt, vergewaltigt, beraubt und zurück nach Bosnien geschafft. Vor der griechischen Küste und auf griechischen Inseln greifen maskierte Männer Schutzsuchende auf, schleppen sie zurück aufs offene Meer und setzen sie dort auf Plastikplattformen aus. Berichte von Betroffenen liegen seit mindestens zwei Jahren vor. Hilfsorganisationen, Ärzt*innen, Journalist*innen, selbst das UN-Flüchtlingshilfswerk versuchen seitdem, die illegalen Pushbacks und Gewalttaten zu skandalisieren. Doch die Regierung in Kroatien genau wie die in Griechenland taten die Aussagen der Betroffenen fortwährend als Lügen ab. Und auch die EU-Innenkommissarin Ylva Johannson sagte noch im Juni, als Journalist*innen ihr Handyaufnahmen von den Pushbacks vorlegten, das Geschehen sei auf Basis kurzer Videos nicht einzuschätzen. Niemand veranlasste, eine Untersuchungskommission einzusetzen. Stattdessen waren die Verantwortlichen in der EU zufrieden, dass die Zahl der Asylsuchenden seit zwei Jahren rapide sank. Zur Belohnung für das erfolgreiche »Management der Außengrenzen« stellte man Kroatien gerade noch den Eintritt ins Schengen-Abkommen in Aussicht.
Nun ist die Beweislast dank einer internationalen Recherchekooperation erstmals so erdrückend, dass die EU sich nicht mehr herausreden kann. Mehrere NGOs wie das Border Violence Monitoring Network und Medien, etwa das ARD-Magazin Monitor und der Spiegel, belegen mit Filmaufnahmen, Drohnenvideos, Satellitenbildern und verdeckten Gesprächen mit Mitarbeiter*innen der kroatischen und griechischen Sicherheitsbehörden, dass die brutalen Pushbacks von den jeweiligen Regierungen angeleitet werden – denen die EU und die einzelnen Mitgliedstaaten direkt die Mittel dafür bezahlt. Allein von Brüssel nach Athen flossen in den vergangenen Jahren 422 Millionen Euro zum »Schutz der Grenzen«.
Johannsen gibt sich plötzlich schockiert über die Recherchen – das müsse aufgeklärt werden –, so als hätten sie und andere Verantwortliche in den Mitgliedstaaten nichts gewusst. Bundeskanzlerin Angela Merkel macht sich nicht einmal mehr die Mühe, Empörung zu beteuern. Der Druck ist nicht groß genug. Es interessiert die Menschen hierzulande immer weniger, dass europäisches oder internationales Recht im Auftrag der EU und einzelner Mitgliedsländer, allen voran Deutschland, gebrochen wird, wenn diejenigen, die Unrecht und Gewalt erfahren, Asylsuchende sind, wenn sie den Deutschen nicht wie ihresgleichen erscheinen.
Als Frauke Petry (Ex-AfD) einst vorschlug, im Zweifel auf Flüchtende zu schießen, um sie an den EU-Außengrenzen zur Umkehr zu zwingen, war der Aufschrei groß. Dass letztes Jahr genau das erstmals erwiesenermaßen passierte, erregte noch ein paar Gemüter. Jetzt, da offiziell anerkannt ist, dass EU-Mitgliedstaaten Menschen brutal misshandeln lassen, um sie zurückzudrängen, fallen die Reaktionen resigniert oder gleichgültig aus. Selbst aus der Linken ist kaum etwas zu hören. In der FAZ und auch in der Deutschen Welle erschienen dagegen kürzlich Beiträge, die behaupteten, die Rechtslage zu Pushbacks sei gar nicht klar. Das sind rechte Fake News, die nur zeigen, dass das Recht egal wird.
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Pandemie haben die globalen Ausbeutungsverhältnisse verschärft und Menschen weiter in die Not und auf die Flucht getrieben. Der Klimawandel macht immer mehr Gebiete der Welt unbewohnbar. Nach dem jüngsten Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks waren noch nie so viele Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg und Gewalt wie 2021, die Situation in Afghanistan wird den Zustand noch verschärfen. Doch in Deutschland war die Zahl der Asylanträge im ersten Halbjahr so niedrig wie seit 2012 nicht mehr.