Vor zehn Jahren war Istanbul der Sehnsuchtsort europäischer Erasmus-Studenten. Seitdem hat sich viel verändert. Wie ist die Stimmung in der Stadt heute?

Zeit Online
Mai 2018

„Which city is better, Istanbul or Berlin?“, fragt der Englischlehrer aus den USA, der seit acht Jahren hier am Bosporus lebt, und vor acht Jahren, denkt man, wäre die Frage passend gewesen. Und die Antwort einfach: Istanbul. Istanbul hatte alles. Alles, was andere hippe Metropolen bieten, und noch viel mehr: Fährfahrten auf dem Bosporus, Strände auf den Prinzeninseln im Marmarameer und dazu ein ganzes Viertel, in dem die Gassen nachts zu Tanzflächen wurden, dessen Bars nahtlos ineinander übergingen.

Der Englischlehrer zündet sich eine Zigarette an und beginnt, sich im Takt der Clubmusik zu wiegen. Neben ihm zieht eine Tanzende eine andere an der Hüfte heran, auf der Bank hinten verweben zwei Männer ihre Zungen, und der Barkeeper zwinkert der Transfrau mit dem Gin Tonic zu. Der Techno treibt voran und der Amerikaner ruft: „Istancool!“ Aber ist es das noch?

Draußen vor der Tür liegt Tünel, jener Bezirk von Beyoğlu, in dem 2010 noch jede Nacht Festivalstimmung war. Heute sind die Gassen ruhig. 2011 ließ die AKP die Terrassen von Tünel schließen. Doch hier drinnen in diesem Club, im Gizli Bahçe, geht die Party weiter. Die Menschen, die diese Stadt ausmachen, lassen sich nichts verbieten. Klar, einigen reichte es, sie gingen weg, der Repression aus dem Weg, die in den letzten Jahren nur wuchs. Doch mindestens genauso viele sind geblieben, machen die Bars und die Kulturzentren nur woanders auf, verlagern den Tanz und die Diskussion an neue Orte.

Erdoğan und seinen AKP-Freunden ist jeglicher Hedonismus jenseits des Kaufrauschs in der Mall ein Graus (Malls und Moscheen sind seine Sache), genau wie jeder antipatriarchale Lebensstil. In Ankara hat die AKP queere Veranstaltungen verboten. In Istanbul wurde letzten Juni schon das zweite Jahr in Folge der Gay Pride March untersagt – mit der Begründung, dass er in den Fastenmonat Ramadan falle und Gläubige sich gestört fühlen könnten. Seit dem Putschversuch 2016 hat außerdem die Unterdrückung von Regierungskritikern ein neues Ausmaß erreicht: Alle, die öffentlich gegen Erdoğan mobilisieren, sind in diesem Land bedroht: dadurch, dass sie ihre Jobs verloren haben, oder gar durch Verfahren gegen sie.

Dieses „öffentlich“ ist aber sehr vage, und anders als man es in Deutschland annehmen würde, bekommt die Regierung erstens vieles nicht mit, und zweitens schaffen sich ihre Gegner immer wieder neue Räume.

Gerade in Istanbul. Alle, die nicht für Erdoğan sind, sind gegen ihn. In Istanbul ist das mehr als die Hälfte der Bewohner. So auch in Beyoğlu, jenem Stadtteil, in dem der Bezirk Tünel mit den geschlossenen Terrassen liegt, in dem der Galataturm liegt, um den sich mittlerweile mehr Einheimische als Touristen scharen, und die İstiklâl, die zentrale Fußgängerzone, auf der die Lampen der Lichterketten den Kaufrausch das ganze Jahr über und bis in die Nacht hinein mit ihrem bunten Strahlen untermalen. Und auf der zuletzt am 8. März Tausende Frauen, queere Frauen, Transfrauen, Cis-Frauen, gemeinsam gegen den patriarchalen Regierungsstil demonstrierten.

An einem gewöhnlichen Dienstag Abend um neun Uhr ist schnelles Vorankommen auf der İstiklâl kaum möglich, so viele Fußgänger schlendern hier entlang. Gerade erst hat der Regen nachgelassen, alles ist noch nass. Doch die Menschen scheinen keine Eile zu haben. Nur die Teenager, die in Gruppen zu H&M, Zara und Mango stürmen. Die Kinder daneben können sich nicht fortreißen von den Eisverkäufern, die riesige Kugeln in die Tüten füllen, dabei „ah“ und „oh“ machen und kleine Glöckchen läuten. Der sanfte Rauch von den Maronenständen erinnert das ganze Jahr an deutsche Weihnachten, eine Frau hat einen Stuhl und eine Gitarre mitgebracht und ein paar Passanten sind stehen geblieben und beginnen zu tanzen.

Die İstiklâl führt bis zum Taksim-Platz, an den der Gezi-Park grenzt. Hunderttausende Menschen protestierten dort vor fünf Jahren wochenlang gegen die Regierung. Im Gezi-Park feierten sie eine neue Form von Solidarität unter Kurden, Transsexuellen, Linken, Armeniern, antikapitalistischen Muslimas, vereint im Aufbegehren gegen die staatliche Repression. Parallel dazu erreichte aber auch die Gewalt, mit der Erdoğan darauf reagierte, ein Ausmaß, das erstmals allen offenbarte: Unter ihm wird kein friedlicher Widerspruch, wird keine Demokratie mehr möglich sein. Wer bis dahin noch geglaubt hatte, Erdoğan sei ein demokratischer Reformer, wurde endgültig widerlegt.

Getrieben davon, sich an den einstigen Eliten zu rächen, hatte Erdoğan zwar zu Beginn seiner Amtszeit großen Teilen jener armen Bevölkerungsschicht, aus der er selbst stammt, Zugang zu mehr Wohlstand und Bildung verschafft, doch es passte ihm nicht, dass damit auch deren Bestreben nach Selbstbestimmung und Freiheit wuchs. Zunächst hatte er selbst zugelassen und vielleicht sogar ermöglicht, dass die Türkei und vor allem Istanbul – jene Metropole, die sich als einzige über zwei Kontinente erstreckt, verbunden durch die Bosporus-Brücke – in den Nullerjahren nicht nur zum Touristenziel, sondern zur international relevanten Kunst- und Kulturstätte und zum Sehnsuchtsort europäischer Erasmus-Studenten wurde.

Doch im Grunde ist Erdoğan daran nie interessiert gewesen. Die Menschen, die vor fünf Jahren auf die Straße gingen, hatten das früh erkannt. Erdoğan hatte bereits zuvor begonnen, gegen säkulare, liberale Bevölkerungsschichten vorzugehen. Er hatte Demonstrationen und Versammlungen immer wieder mit Gewalt aufgelöst und die Steuern auf Alkohol erhöht. Die brutale Reaktion auf die Gezi-Park-Proteste enthüllte auch im Westen schließlich den autoritären Charakter seiner Regierung.

Der Tourismus brach aber erst drei Jahre später richtig ein – zu viele Ereignisse hintereinander schreckten die Touristen ab: Im Januar 2016 sprengte sich ein islamistischer Selbstmordattentäter in Sultanahmet direkt neben den berühmten Sehenswürdigkeiten, neben der Hagia Sophia und der Blauen Moschee, in die Luft. Elf Deutsche und ein Peruaner starben. Es folgten das Attentat am Istanbuler Atatürk-Flughafen, der Putschversuch gegen Erdoğan, der Angriff auf den Istanbuler Nachtclub Reina, die Verhaftung der deutschen Journalisten Meşale Tolu und Deniz Yücel und des Menschenrechtlers Peter Steudtner.

Seit dem letzten Attentat in der Stadt, seit jenem Anschlag auf den Nachtclub am 1. Januar 2017, sind nun aber fast eineinhalb Jahre vergangen, in denen Istanbul nicht mehr vom Terror heimgesucht wurde, und auch die drei bekannten Deutschen sind mittlerweile freigekommen. Das scheint die Touristen bereits beruhigt zu haben: 2017 kamen wieder mehr als im Vorjahr ins Land. Wer nur in Antalya am Strand liegen oder Istanbul besichtigen will, wird auch tatsächlich kaum etwas davon mitbekommen, dass Erdoğan sich in den letzten Jahren zunehmend zum Despoten entwickelt hat. Die Passkontrollen bei der Einreise am Flughafen dauern genauso lang wie eh und je, nur die Schlangen am Ticketschalter vor der Hagia Sophia sind deutlich kürzer als früher.

Und manche Menschen, die, anders als Touristen, sehr wohl ins Visier der Regierung geraten könnten, ließen sich selbst in all den Jahren, all der zunehmenden Repression zum Trotz, nicht davon abhalten, nach Istanbul zu ziehen. Dilşad Budak kommt aus dem Ruhrgebiet und sitzt heute Abend auf der Bühne im Luzia, einer Bar mit Kulturzentrum im Viertel Arnavutköy. Das Lokal ist der Ableger der berühmten Luzia in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg. Seit Kurzem pendelt der Besitzer Kaan Müjdeci, ein Filmregisseur, zwischen Berlin und Istanbul, und da Arnavutköy das neue Beyoğlu sein soll, hat er die neue Luzia hier, ein bisschen abseits der touristischen Attraktionen, aufgemacht. Arnavutköy war bislang allein für die alten verschnörkelten Holzhäuser bekannt, die in verschiedenen Pastelltönen von der Promenade am Bosporus den Hügel hinaufwachsen. Durch die Gassen dazwischen drängeln sich jetzt Vespas, Spaziergänger und Taxen. Aus einem steigt eine Frau mit 13 Zentimeter hohen Louboutin-Pumps und beugt sich tief nach unten zu drei Katzen, die wie Fans am Bürgersteig warten.

Auch Dilşad Budak trägt High Heels auf der Bühne des Luzia, schwarze Jeans und dazu Lippen und Nägel knallrot. Sie liest aus ihren biografischen Notizen Türkland, einer sehr persönlichen Erzählung postmigrantischer Gefühlswelten. Sie liest auf Türkisch, an der Leinwand im Hintergrund erscheint die deutsche Übersetzung. Der Saal ist voll, die Leute drängen sich hinter den besetzten Stuhlreihen, ein paar müssen zur nächsten Vorstellung wiederkommen. Budak ist in Deutschland aufgewachsen und nach dem Studium in die Türkei gezogen – zu einer Zeit, als die goldenen Jahre Istanbuls angeblich schon vorbei waren, wie man ihr sagte. Sie findet: Gerade jetzt muss man hierherkommen.