Das Innenministerium hat einen Entwurf für ein Gesetz zur sogenannten „dritten Option“, also einem zusätzlichen Geschlecht, vorgelegt. Der Kinder- und Jugendpsychiater Bernd Meyenburg im Gespräch über den neuen Gesetzesentwurf.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Oktober 2018

FAZ: Herr Meyenburg, das Innenministerium hat einen Entwurf für ein Gesetz zur so genannten „dritten Option“ vorgelegt, über den gerade abgestimmt wird. Es gilt als Fortschritt, dass der Gesetzgeber festhält, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Warum ist der Entwurf unter Experten trotzdem umstritten?

Bernd Meyenburg: Mit diesem Gesetzesentwurf wird eine historische Chance vertan, nämlich: die Menschen selbst einschätzen zu lassen, welches Geschlecht sie haben. Das Bundesverfassungsgericht hatte im vergangenen Jahr klargestellt, dass es nicht nur männlich und weiblich als Geschlechtseintrag geben darf und dass es einen umfassenden Diskriminierungsschutz für nicht-binäre Menschen geben muss. Deshalb ist die Politik verpflichtet, eine dritte Option einzuführen, mit dem Namen „divers“. Wer aber Zugang zu welcher der drei Geschlechtskategorien hat, entscheiden nach dem Entwurf von Horst Seehofer nicht die Menschen selbst, wie es in anderen Ländern, etwa Argentinien, Malta, Irland, Dänemark oder Chile längst der Fall ist. Dort können die Menschen ihren Eintrag mit einem einfachen Verwaltungsakt ändern. Laut dem Entwurf der Bundesregierung dagegen müssen sich alle, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen zugeschrieben wurde, medizinisch-psychiatrischen Untersuchungen unterziehen, die eine extreme Belastung für die Betroffenen sind.

FAZ: Sie führen solche Gutachten selbst seit 40 Jahren durch. Sie sind Experte für die Untersuchungen bei transidenten Kindern und Jugendlichen — und genau diese Praxis kritisieren Sie nun?

M: In der Medizin sind wir an einem anderen Punkt als vor 40 Jahren. Damals galt es als krank, sich nicht mit einem von zwei Geschlechtern, das einem vermeintlich qua Geburt gegeben ist, zu identifizieren. In den neueren psychiatrischen Klassifikationen ist das nicht mehr der Fall. Die Medizin ist mittlerweile weiter — und meine eigene Erfahrung in all den Jahren hat mir ebenfalls gezeigt, dass es die Menschen vielmehr krank macht, ihnen keine freie Wahl zu lassen. Und trotzdem müssen sich alle, die ihr eingetragenes Geschlecht ändern wollen, gemäß des so genannten Transsexuellengesetzes immer noch Untersuchungen unterziehen, um zu beweisen, dass sie das sind, was sie sind. Diese Untersuchungen sind zwar nicht mehr so schrecklich wie sie einmal waren — früher kam es zum Beispiel vor, dass Gutachter unangemeldet bei den Betroffenen zu Hause aufgetaucht sind, um deren Kleiderschränke auf etwaige Fetisch-Spielzeuge zu durchsuchen, oder den Menschen wie im Verhör Fragen nach deren Selbstbefriedigungs- und Sexualpraktiken stellten — doch sie pathologisieren die Betroffenen weiterhin.

FAZ: Warum wird das dann so vorgeschlagen? Die Sorge, Menschen könnten zu leichtfertig von einem zum anderen der beiden etablierten Geschlechter wechseln oder sich weder als Frau noch als Mann einordnen, ist doch eher unbegründet angesichts der Diskriminierung, der die Menschen in diesen Fällen nicht nur durch das Gesetz, sondern auch auf der Straße ausgesetzt sind?

M: So sehen wir das auch. Zusammen mit einer Kollegin und einem Kollegen aus Hamburg habe ich überprüft, wie die üblichen Gutachten bei transidenten Menschen ausgehen. Unser Ergebnis: In 99 Prozent wird den Menschen durch die Untersuchungen nur bestätigt, was sie ohnehin schon wussten. Eine weitere Umfrage mit 40 Kollegen, die Gutachten erstellen, brachte dieselbe Zahl. Deshalb schlussfolgern wir: Die Betroffenen wissen selbst am besten Bescheid, welches Geschlecht sie haben und ob „Mann“ oder „Frau“ überhaupt für sie passt oder eher die neue Kategorie „divers“. Die so genannten Gutachten sind nicht nur quälend für die Betroffenen, sie sind aus medizinischer Perspektive also auch schlicht überflüssig.

FAZ: Sie machen die Untersuchungen ja speziell bei Kindern und Jugendlichen. Es intervenieren doch bestimmt noch immer viele Eltern, wenn etwa ihr Sohn lieber ein Mädchen sein will. Wer soll da entscheiden dürfen?

M: Bei Minderjährigen, bei denen die Zustimmung der Eltern zur Änderung des Geschlechtseintrags notwendig wäre, ist Vorsicht geboten. Hier ist die Betreuung durch Ärzte und Psychologen tatsächlich oft mehr Schutz für das Kind, wenn es von seinen Eltern nicht in seinen Empfindungen akzeptiert wird. Die Eltern sind ja meist selbst verunsichert und unter Druck, die Kinder von Geburt an auf ein Geschlecht festzulegen. Das zeigt sich besonders bei Eltern von intersexuellen Kindern, also von Kindern, die nach der Geburt von den offensichtlichen biologischen Merkmalen her nicht als weiblich oder männlich einzuordnen waren. Auf Empfehlungen hin ließen viele Eltern ihre frisch geborenen Babys an den Genitalien operieren — was extremes Leid hervorruft.

FAZ: Der Appell des Bundesverfassungsgerichts war, die Diskriminierung gesetzlich zu ahnden. Damit müssten solche Operationen verboten werden. Das steht aber nicht im Entwurf.

M: Die Richter in Karlsruhe haben auch suggeriert, dass es am besten wäre, den gesetzlichen Geschlechtseintrag ganz aufzuheben. Dann hätte man all diese Schwierigkeiten sowieso nicht. Diese Entscheidung müsste aber wohl international getroffen werden, sonst würde das etwa beim Reisen zu Schwierigkeiten führen, wenn man ein Visum beantragt. Das ist beim Blick auf einige Länder gerade noch sehr viel weniger realistisch als in Deutschland.

FAZ: Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, mit dem Sie zusammengearbeitet haben, sagt, es gäbe so viele Geschlechter wie es Menschen gibt. Stimmen Sie dem zu?

M: Es gibt nicht „die Männer“ und „die Frauen“, jeder Mensch hat seine individuelle Geschlechtsausprägung. Und die hängt von der Umgebung und auch von der Veranlagung ab.

FAZ: Ist es überhaupt noch zeitgemäß, von Umwelt und Kultur auf der einen und Veranlagung und Biologie auf der anderen Seite zu sprechen, die beiden Felder also als unabhängig zu betrachten?

M: In der Medizin hieß es früher immer: Nature or Nurture, also Natur oder Umwelt. Das ist überholt. Die selbe genetische Ausstattung kann zu gänzlich anderen Ausformungen führen, wenn andere Umweltbedingungen herrschen, und somit ist auch Geschlecht ein sehr komplexes Zusammenspiel von biologischen und umweltbedingten Faktoren. Oft wurde versucht, Transidentität nur psychologisch zu erklären, darüber etwa, dass ein frühes Trauma vorliegt, aber das ist nicht haltbar. Als Mediziner bin ich sicher, dass es so etwas wie eine biologische Basis für das Geschlechtsempfinden gibt, auch wenn diese Basis oft nicht diejenige ist, der wir ein Kind nach der Geburt zuordnen. Es gibt viel subtilere biologische Faktoren, die unsere geschlechtliche Identität bestimmen, als die Chromosomen. Oft widersprechen etwa hormonelle Zustände den Chromosomen. Die biologische Basis kann sich auch verändern mit den Umwelteinflüssen und den Erfahrungen, die ein Mensch macht. Geschlecht ist ein breites Spektrum.

FAZ: Gäbe es viel mehr Ausprägungen dieses Spektrums, wenn der Zwang zur Binarität nicht so groß wäre?

M: Ich denke schon, dass dann mehr Variationen ausgelebt würden. Die meisten Menschen ordnen sich der binären Ordnung unter und leben gezwungenermaßen im binären Korsett.Doch es kommen immer mehr Kinder und Jugendliche zu uns, die sich nicht mit dem zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Es gibt scheinbar weniger Hemmungen, sich zu artikulieren. Über das Internet erfahren die jungen Menschen früher, dass sie nicht allein sind und dass es einen Ausweg gibt. Es gibt auch zunehmend Fälle von jungen Menschen, die nicht das Geschlecht wechseln wollen, sondern a-gender sind. Für sie ist die dritte Kategorie eine Befreiung. Besonders fällt uns aber auf, dass in den letzten Jahren immer mehr als weiblich klassifizierte Menschen sagen, dass sie sich nicht als Mädchen und Frauen empfinden. Das sind mittlerweile ungefähr 80 Prozent der Fälle, die zu uns kommen. Das löst eine heftige Diskussion in Fachkreisen aus.

FAZ: Welche Erklärungen gibt es denn dafür?

M: Es wird diskutiert, ob das kulturell bedingt ist. Ob die jungen Menschen also lieber Männer sein wollen, weil das der einfachere Weg ist und mehr Privilegien mit sich bringt. Aber daran habe ich meine Zweifel, das würde den Menschen ja die individuelle Veranlagung absprechen. Wie gesagt: Geschlecht ist ein Zusammenspiel aus Kultur und Biologie. Vielleicht trauen sich diese Menschen einfach bereits mehr als andersherum. Mal sehen, wie es in ein paar Jahren ist. Es ist einiges in Bewegung.