Politik­wissenschaftlerin Manuela Bojadžijev erklärt die Ursachen vom wachsenden Nationalismus und Rassismus.

Missy Magazine
November 2018

Frau Bojadžijev, Sie beschäftigen sich seit über 20 Jahren mit Rassismus in Deutschland – in Ihrem neuen Buch scheinen Sie besonders alarmiert. Ist die Situation heute wirklich so viel schlimmer als zuvor? 

Der Rassismus bietet eine scheinbar einfache Lösung für die Probleme der Menschen. Und die Probleme werden für viele Menschen größer, ihre Lebensverhältnisse prekärer, die Konkurrenz unter den Menschen wächst. Nationalismus und Rassismus erstarken genau deshalb, weil sie Projektionsflächen für die Ursachen der Probleme erschaffen: Nationalismus bestimmt einen äußeren Feind, Rassismus einen inneren. Nationalistische Projekte brauchen eine fiktive Ethnizität im Inneren. Heute umso mehr, da das Innen durch Globalisierungsprozesse immer heterogener wird. Gefährlich ist außerdem, dass den nationalistischen und rassistischen Stimmen gerade immer mehr Platz eingeräumt wird.

Platz einräumen, die Ängste ernst nehmen – viele Medien behaupten ja, dass sie das jetzt tun, weil sie davor zu progressiv gewesen seien und dabei sehr viele Menschen abgehängt hätten.

Das ist aber falsch. Erstens ist fraglich, ob sie wirklich so progressiv waren. Und zweitens ist es keine Lösung, Rassismus zu verharmlosen. Wir sind in einer gefährlichen Konjunktur. Und ein zentrales Problem besteht offensichtlich darin, dass viele das nicht einsehen. Mehr noch: Inzwischen etabliert sich eine Toleranz gegenüber nationalistischem und rassistischem Gerede. Die Strategie der Rechten geht auf: Sie versuchen eine neue rassistische Ordnung herzustellen, indem sie über die anerkannten Grenzen legitimer Diskurse hinausschießen und die Grenzen verschieben. Dem wird so viel Aufmerksamkeit zuteil, dass wir die Kritik daran gar nicht mehr hören und die wahren Kräfteverhältnisse aus dem Blick verlieren.

Die da wären?

Zwei neue Studien zeigen erstens, dass sich seit 2015 Millionen Deutsche in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit engagiert haben. Und zweitens, dass zwei Drittel der deutschen Bevölkerung den Rechtsruck und die Verrohung der politischen Debatte beklagen. Öffentlich werden diese Menschen kaum repräsentiert.

Stimmen Sie der These zu, die in der Eribon-Diskussion immer wieder laut wurde: Die Linken hätten Klassenverhältnisse, hätten den weißen arbeitslosen Mann zu lange ignoriert und damit Rassismus verstärkt?

Diese These dient der Rechten, um gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen. Es ist schon fast banal zu sagen, dass ihre Verfechter nur in die Statistik schauen müssen, um zu sehen, dass Geringverdiener, auch in Deutschland anteilsmäßig vor allem migrantisch sind. Die IG Metall ist die größte Vertretung von Arbeitenden in der Welt und der Anteil von Migranten und Migrantinnen darin ist genau so hoch wie der in der deutschen Gesellschaft insgesamt. Man könnte also sagen, die IG Metall ist auch die größte Migrant*innenorganisation in Deutschland. Wie kann es sein, dass der einfache statistische Sachverhalt ignoriert wird? Und warum sprechen Sozialdemokraten programmatisch von Migrant*innen und ihren Nachkommen als „Minderheiten“? War nicht deren eigentliches Thema noch vor Kurzem das eine Prozent der Reichen, die global fortschreitende Privatisierung von Reichtum oder die Arbeitszeitregelung?

Linke und Sozialdemokrat*innen müssen also Anti-Rassismus und Kapitalismus-Kritik viel mehr verbinden.

Genau, es bleibt eine Leerstelle, und die hätte man in der Eribon-Diskussion eigentlich beleuchten müssen: Den Zusammenhang zwischen Ausbeutungsverhältnissen, Nationalismus und Rassismus. Selbst diejenigen, die sich viel mit Ausbeutung und den misslichen Formen des Wirtschaftens beschäftigen, denken immer nur peripher über die anderen Fragen nach. Dabei sind sie konstitutiv füreinander. Rassismus prägt unsere Gesellschaft. Er organisiert, wie wir leben, wen wir heiraten, wie wir uns anziehen, was wir essen sollen und was nicht, wo und wie wir arbeiten – und wie wir dem widerstehen. Dabei geht es um die Reproduktion der Genealogie einer bestimmten sozialen Gruppe, die rassistisch formiert ist, und diese genealogische Reproduktion organisiert auch die Vererbung in Deutschland, die Vererbung von Reichtum, Bildung, Zugehörigkeit.

Der neoliberale Kapitalismus tut aber ja so, als kenne er keine Hautfarben oder Geschlechter, als hätte er eine inklusive Kraft, die Rassismus überwindet.

Die Entstehung des Weltmarktes ging Hand in Hand mit Kolonialismus und Versklavung. Zweifellos sind manche Ordnungen und Hierarchien aus der Zeit des Kolonialismus` mittlerweile auch weggefegt worden. Wir müssen uns aber fragen, warum rassistische Ordnungen dann nicht Gegenstand der Vergangenheit sind. Ich halte anthropologisch argumentierende Antworten, die rassistische Muster für grundmenschlich halten, für falsch. Im Zuge der kapitalistischen Globalisierung, die Grenzen bisweilen auflöst und neu setzt, erlauben rassistische Ordnungen im Inneren der Gesellschaft zu hierarchisieren und auch Ausbeutungsverhältnisse aufrecht zu erhalten. Wo diese Ordnungen der Ausbeutung entgegenstehen, werden sie auch beseitigt. Historische Studien zu Südafrika zeigen etwa, wie die Apartheid nur bis zu einem gewissen Grad produktiv für den Kapitalismus war, zugleich würde niemand behaupten, Rassismus wäre mit der dortigen neoliberalen Ordnung verschwunden. Heute artikuliert sich Rassismus insbesondere in Europa verstärkt im Kontext von Migrationsdebatten gegenüber eine mobilen Bevölkerung.

Die Vorherrschaft des weißen Mannes ist aber auch auf dem Weltmarkt nicht mehr so sicher wie sie einst war.

Das ist richtig, die USA oder Europa verlieren an zentraler hegemonialer Kraft, andere Länder, wie Indien oder China gewinnen zunehmend an geopolitischer und wirtschaftlicher Relevanz. Das wiederum hat Einfluss auf die rassistischen Ordnungen, die sich im Verhältnis neu justieren. In welcher Weise rassistische Argumente sich in dieser neuen Ordnung widerspiegeln, konnten wir auch bei der so genannten Griechenland-Krise 2015 beobachten. Regelrecht kampagnenhaft begleiteten hier rassistische Stereotype und Zuschreibungen die Verhandlungen der EU mit der griechischen Regierung. Die resolute Haltung Deutschlands begründete sich dann nicht selten medial mit verallgemeinernden Zuschreibungen von „faulen Griechen“, die man auf den Pfad der globalisierten Finanzwelt trimmen musste, schon ihrer selbst Willen. Das zeigt die stark kulturalisierende Argumentation, auf der Rassismus heute basieren kann.

In der Forschung heißt das auch „Rassismus ohne Rassen“. Können Sie das bitte ausführen?

Rassismus hat sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg neu konstituiert. Die Erfahrung der Vernichtung von Millionen von Menschen durch den NS hat weltweit einen starken, auch institutionellen Antirassismus ausgelöst, der durch die UN-Deklaration von 1950 aufgegriffen wurde, in der es schließlich heißt: Es gibt keine Rassen. Rassismus verschwand damit aber nicht. Der Diskurs darüber, wie wir eigentlich zueinander stehen, wurde von da an zunehmend kulturalistisch, wobei er aber auch biologistische Argumente weiterführt – so die Diagnose. Etienne Balibar nannte das in den 1980er Jahren einen verallgemeinerten Antisemitismus. Das ist insofern hilfreich als die Analysen des Antisemitismus ja nie davon ausgingen, dass es Juden als Rasse gibt. Theodor W. Adornos Beobachtung, Antisemitismus sei das Gerücht über die Juden, lässt sich in diesem Sinne auf heute übertragen: Der Rassismus, mit dem wir es zu tun haben, ist das Gerücht über die Migranten. Ein Gerücht bedeutet ja, dass ein Wissen verbreitet wird, das keine substanzielle Grundlage hat, aber nun geglaubt und auch gelebt wird. Ach ja, das habe ich auch schon gehört, wird dann gesagt. Und so verfestigt sich das zunehmend, entfaltet Evidenz, nicht nur im Alltag, es sickert auch in Institutionen und breitet sich dort aus, wird verfestigt. Damit werden Hierarchien dauerhaft verankert und reproduziert. Eine neue Studie des Yale-Juristen James Q. Whitman zeigt, dass die NS-Juristen sich an den US-amerikanischen Rasse- und Einwanderungsgesetzen orientierten, um auszuarbeiten, wie eine Gruppe juristisch stichfest zu einer Rasse gemacht werden kann.

Um den Zusammenhang dieser Konzepte geht es auch in dem Buch, das Sie zuletzt herausgegeben haben: Es liefert eine Diskussion zur Aktualität von Etienne Balibars und Immanuel Wallersteins „Rasse, Nation, Klasse“ aus den 90ern. Dazu haben Sie auch ein internationales Symposium veranstaltet. Was haben die verschiedenen Wissenschaftler aus aller Welt als Lösung vorgeschlagen?

Vorherrschend war die Einsicht: Wir müssen die Welt anders erklären und gestalten als der Rassismus es tut. Wir müssen dringend auf Alternativen verweisen. Auf Konzepte des solidarischen Zusammenlebens, die heute aktualisiert gehören. Dazu gehören auch neue Errungenschaften, Herausforderungen und Möglichkeiten durch technische Entwicklungen einzubeziehen, an unterschiedlichen Orten der Welt. Historisch wissen wir, dass solidarische Praktiken entwickelt und institutionalisiert werden können. Meine Erkenntnis ist, dass solidarische Praktiken meistens von jenen ausgehen, die schlechter gestellt sind, die gar nicht anders können, die auf diese Praktiken angewiesen sind.

Wie etwa in der Geflüchtetenbewegung?

Ja, von dort aus kommen auch die Praktiken, die neue Solidaritäten eröffnen. Und damit eine der Alternativen zur Gewalt bieten, in die Rassismus uns führt. Auf dem Symposium erzählte ein Kollege, ein Professor der Anthropologe, der selber nach Schweden geflohen ist, davon, dass er dort Opfer eines rassistischen Mordversuchs wurde, der Teil einer Anschlagsserie war, ähnlich dem der NSU. Eine Narbe in seinem Gesicht ist die sichtbare Folge dieses Anschlags. Der Täter schrieb ihm nach seiner Festnahme, dass es ihm leid tue und dass er es „nicht persönlich nehmen“ solle. Denn der Angriff habe eigentlich der schwedischen Politik gegolten. Es gibt kaum ein besseres Bild für die Erklärung von Rassismus: Es gibt Leute, die halten ihr Gesicht dafür hin, dass schlechte Politik gemacht wird und rassistische Kulturen toleriert werden.