Die feministische Bewegungen in der Türkei kämpfen gegen die zunehmend sexistische Politik der Regierungen.

Missy Magazine
März 2018

Als Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland noch als demokratischer Reformer galt, bereiteten Feminist*innen sich schon auf den Kampf vor: Denn in der ganzen Türkei wussten diese von Beginn seiner Amtszeit an, dass seine Demokratisierung nicht ihre und deshalb gar keine sein würde.

An den Entwicklungen in der Türkei zeigt sich exemplarisch der Schulterschluss von Patriarchat und autoritärem Staat – genau wie der Zusammenhang zwischen feministischen Kämpfen und demokratischem Fortschritt. Und so heißt es in diesen Tagen immer öfter, auf Twitter und in den Teehäusern, nur die Frauen könnten die säkulare Demokratie in der Türkei noch retten.

Vor allem heute, am 25. November 2017, zirkuliert die Aussage in den Social-Media-Kanälen. Es ist Spätnachmittag, die Dämmerung hat schon eingesetzt und auf der Istiklal, der zentralen Fußgängerzone in Istanbuls Stadtteil Beyoğlu, die den Galata-Turm mit dem Taksim-Platz verbindet, leuchten die Lampen der Lichterketten, die den Kaufrausch bis in die Nacht hinein mit ihrem bunten Strahlen untermalen. Aber heute geht hier niemand shoppen, heute ist die Straße voll mit Tausenden Frauen, queeren Frauen, trans Frauen, cis Frauen, die gegen Gewalt an Frauen und Kindern demonstrieren. Sie halten Schilder hoch mit Fotos all der Politikerinnen und Aktivistinnen, die im Gefängnis sitzen, Regenbogenflaggen, Banner, auf denen steht: „Wir dulden keine Gewalt durch den Staat und wir werden unseren Kampf nicht aufgeben.“

Frauen jeden Alters demonstrieren gemeinsam, 60-Jährige mit perfekter Dauerwelle und roten Lippen neben 20-Jährigen mit Undercut oder Kopftuch, Mitglieder der kemalistischen Partei CHP neben Vertre­terinnen der kurdischen HDP und marxistischen Grup­pen. „Die feministische Bewe­gung führt Menschen aus jedem sozialen Segment der Gesellschaft zusammen“, ruft Diren Cevahir Sen und hakt die Frau neben sich unter. Sen ist Anwältin und linke Aktivistin und hat die Demonstration mitorganisiert. Am Rand des Zugs stehen schwer bewaffnete Polizisten. Sie hatten versucht, die Frauen aufzuhalten, der Marsch war kurz zuvor verboten worden. „Doch wir waren nicht aufzuhalten“, sagt Sen. Sie laufen schnell und rufen im Chor, immer wieder: „Wir wollen leben.“ Am Ende liest Sens Kollegin ein Statement auf Kurdisch, Arabisch und Türkisch vor. Es schließt mit den Worten: „Wir werden keine Gesetze dulden, die unsere Leben in die Mutterschaft verbannen, die uns in der Familie einsperren, wir werden keine Männer dulden, die uns sagen, wie wir zu leben haben, und auch nicht den einen Mann, der all diese Männer schützt.“ Jenen Mann, Erdoğan, der den Backlash anordnet.

Die feministische Bewegung ist mit der Entwicklung der türkischen Demokratie eng verwoben, sie hat die Säkularisierung unter Mustafa Kemal Atatürk seit ihren Anfängen 1923 mit vorangetrieben. Bereits zwölf Jahre nach der Staatsgründung besetzten Frauen im türkischen Parlament fünf Prozent der Plätze – eine der höchsten Quoten weltweit zu dieser Zeit. Doch mit der Gleichberechtigung aller Staatsbürger*innen war es auch unter Atatürk nicht weit her und unter den folgenden Militärdiktaturen erst recht nicht. Erst Erdoğan verschaffte der Mehrheit der Bevölkerung Zugang zu Bildung, und auch der fortwährenden Unterdrückung der Frau gerade in muslimischen Familien schien er etwa mit dem Verbot von sogenannten Ehrenmorden eine Absage zu erteilen. So dachte man zumindest in Deutschland. Spätestens seit der EU-Beitritt nicht mehr zur Debatte stand, schlug seine Regierung aber offensiv jene Richtung ein, die Feministinnen von Anfang an erkannten: antisäkularen und patriarchalen Despotismus.

Die Repression gegen Regierungskritiker*innen nimmt seit dem Putschversuch im letzten Jahr stetig zu und geht mit Maßnahmen einher, die den homophoben und reaktionären Vorstellungen der islamistisch-konservativen Bewegung entgegenkommen. Erdogans jüngste Gesetzesänderungen erlauben Vermählungen durch sunnitische Geistliche und ermöglichen damit arrangierte Kindesehen ?, die im Standesamt verboten sind. Scheidungen sollen zunehmend schwerer werden und Frauen gar nicht mehr zustehen. Abtreibungen genauso wenig. Queere Veranstaltungen hat die AKP zunächst in Ankara verboten, die Repression gegenüber der gesamten Community will Erdogan immer weiter gesetzlich verankern. Schon das zweite Jahr in Folge wurde der Gay-Pride-March in Istanbul verboten – mit der Begründung, dass er in den Fastenmonat Ramadan falle und Gläubige sich gestört fühlen könnten. Neuerdings lässt Erdogan Schulbücher umschreiben, damit Mädchen von klein auf lernen, was ihre Aufgabe ist: Dem Mann zu dienen.

„Und wenn sie nicht gehorchen, werden sie dafür büßen müssen. Gewalt gegen Frauen ist in rechtskonservativen Familien an der Tagesordnung“, sagt Sen. Jetzt, da die Demonstration vorüber ist, meldet sie sich bei den Frauen zurück, die währenddessen auf ihrem Handy angerufen hatten. Um sich rechtlichen Rat zu holen, wie sie gegen den prügelnden Ehemann vorgehen können, gegen den Bruder, gegen den Vater. Gegen den Chef, der sie beleidigt, den Kollegen, der sie anmacht, den Passanten, der ihnen hinterherruft, den Mann im Bus, der sie begrapscht. Die Übergriffe im öffentlichen Raum nehmen zu, seit die Regierung immer offener sexistisch ist. Schon 2014 forderte der AKP-Politiker Bülent Arınç, damals Parlamentspräsident, dass Frauen das Lachen in der Öffentlichkeit untersagt werde. Im Sommer 2017 kam es in Istanbul vermehrt zu Belästigung von Frauen, die angeblich zu leicht bekleidet waren. So versuchte etwa ein Nachtwächter im Maçka-Park mit Hilfe der Polizei zwei Frauen, die angeblich zu transparente Oberteile trugen, aus dem Park zu werfen. Doch beiden wehrten sich. Und nicht nur sie: Anfang August wurde „Maçka-Park“ zum meistgeteilten Hashtag in der Türkei. Den ganzen Sommer über fanden Demonstrationen statt unter dem Banner: „Was ich trage, geht Dich nichts an!“

Die feministische Szene wächst. „Immer mehr Frauen, queere, trans, in der ganzen Türkei kapieren: Wenn ihnen etwas passiert, sind wir zur Stelle“, sagt Sen. Mit „wir“ meint sie feministische Anwält*innen und Organisationen. „Sie wissen, dass sie Hilfe bekommen. Der feministische Diskurs verbreitet sich.“ Auch außerhalb von Istanbul. Sen kommt aus Bartın, einer Kleinstadt am Schwarzen Meer. Dort hätten Feminist*innen unlängst eine Kampagne organisiert, die Frauen dazu aufrief, auszugehen, in die traditionellen Raki-Lokale, in die Meyhane, Essen und Trinken zu genießen, Spaß zu haben. Ganze Gruppen kämen dem jetzt regelmäßig nach. Sen verweist auch auf den Fall von Çilem Doğan, die ihren Mann umgebracht hat, nachdem der sie jahrelang zu Hause misshandelt hatte. Während des Gerichtsverfahrens ging auf Twitter ein Slogan viral: „Warum immer Frauen? Lasst auch ein paar Männer sterben!“ Dass Doğan frei gesprochen wurde, führt Sen auf den feministischen Protest zurück.

Viele der Demonstrantinnen sind mittlerweile weitergezogen in einen Club um die Ecke. Er befindet sich im dritten Stock eines alten Gebäudes, es geht durch ein schmales Treppenhaus, vorbei an Eingangstüren zu Büros und Wohnungen. Der Club gehört einer trans Frau. Seit Jahren finden hier Parties statt, Dragshows, wie Veranstaltungen für Lesben, Partys, auf denen sich alle sicher fühlen. Jetzt ist es rappelvoll, die Gäste rauchen, trinken, lachen und reden laut durcheinander, um die Musik zu übertönen. Eine neu gegründete Gruppe namens „All together Istanbul“ hat die Party vorbereitet, maßgeblich beteiligt sind Mitglieder von KADAV, eine feministische Organisation, die sich gegen alle Formen der Unterdrückung und Ausbeutung einsetzt. Seit ein paar Jahren bietet KADAV verstärkt Programme für Frauen an, die vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt sind: Für geflüchtete Frauen und Migrantinnen, für Frauen im Gefängnis, für LGBTIQ und vor allem für alle, auf die mehrere der Eigenschaften zutreffen.
Kıvılcım Arat ist eine der Mitarbeiterinnen von KADAV. Die 30-Jährige weiß selbst zu gut, wie es ist, mehrfach diskriminiert zu sein: Sie wurde als Sohn linker, kurdischer Aleviten in Istanbul geboren, outete sich als Jugendliche als schwul und mit Anfang 20 als trans Frau. Bei der Jobsuche nach ihrem Studium war die Ablehnung einiger potentieller Arbeitgeber so deutlich, dass sie aufgab und als Sexarbeiterin ihr Geld verdiente. Bis sie den Job bei KADAV bekam. Dort ist sie nun selbst für die Beratung von trans und cis Sexarbeiterinnen zuständig, informiert sie über juristische Beratungsangebote und die Gesundheitsvorsorge. Sie will Sexarbeit keinesfalls verurteilen. „Es ist auch nicht anders als die meisten Scheißjobs, die die Menschen machen müssen, um zu überleben“, sagt Arat. Lohnarbeit eben. Aufrechte Antikapitalistin ist Arat auch noch.

Ihre Kämpfe lassen sich manchmal schwer vereinen. Arat ist Mitglied einer sozialistischen Gruppe, mit der sie immer wieder streitet, weil die Sexarbeit gänzlich kriminalisieren will. Und in der trans Szene kommt wiederum ihr Einsatz für die kurdische Befreiung nicht immer gut an. In der alten feministischen Szene, die überwiegend aus cis Frauen besteht, werden dagegen die Schicksale von trans Frauen viel zu oft übersehen. Zusammen mit „LGBTI Istanbul“ organisierte Arat gerade erst eine Gedenkveranstaltung für Hande Kader, die 2016 in Istanbul brutal ermordet worden war. Sie war 2015 durch ihren Protest gegen das Verbot des Gay-Prides in Istanbul bekannt geworden. Die Gedenkveranstaltung für sie fand fünf Tage vor der heutigen Demo statt, am 20. November, dem Tag der Erinnerung an die Opfer von Ausschreitungen gegenüber trans Menschen. „Leider kamen nur weniger der cis Feministinnen“, klagt Arat. Dafür die Genoss*innen aus der marxistischen Gruppe.

Gerade jetzt dürften sich die verschieden diskriminierten Gruppen nicht spalten lassen. Doch das fürchtet auch Arat nicht – im Gegenteil. Genau wie Diren Cevahir Sen sieht sie, wie groß die Bemühungen aller FLTIQ aktuell sind, zusammen zu kämpfen, sich gegenseitig zu unterstützen und auch Machtverhältnisse untereinander zu berücksichtigen. Und manchmal klappt es schon recht gut. Jetzt gerade etwa.

„Schau, da stehen Aktivistinnen von den Gruppen, die sich für geflüchtete LGBTIQ einsetzen“, sagt Arat und zeigt neben sich, „zusammen mit Tierbefreierinnen, Anarchistinnen und Feministinnen der älteren Generation.“ Es erinnere sie an die Jahre von 2010 bis 2013, in denen die LGBTIQ-Bewegung in Istanbul Veranstaltungen organisierte, auf denen alle marginalisierten Gruppen zusammenkamen, zusammen auf die Straße gingen, Fanzines druckten, sich international vernetzten. Ohne dass sie es damals wussten, bereiteten sie so den Gezi-Protest im Sommer 2013 mit vor. „Gezi machte mir klar, dass mein Leben etwas zählt, dass meine Ideen etwas zählen. Ich fühlte die Macht, die wir gemeinsam hatten. Die wir immer noch haben können.“

Sie raucht. Auf ihrem Arm ist in schnörkeliger Schrift der Name „Dilara“ tätowiert. So heißt ihre Schwester, die von ihrem Mann misshandelt wurde, überlebte und den Absprung schaffte. Arat sagt: „Ich glaube an unsere Bewegungen, an unsere Solidarität und daran, dass die patriarchale Ära eines Tages enden wird, möglicherweise früher als wir denken.“